Gerhard Streminger

Adam Smith
Wohlstand und Moral

(Aus: Der blaue Reiter. Journal für Philosophie 11, S. 88-91*; überarbeitete Version)

In Jahre 1766 hatte sich Adam Smith in seine schottische Geburtsstadt zurückgezogen, um die Gedankenfäden über den Wohlstand der Nationen zu einem Riesengemälde zu verweben. Im Frühjahr 1776 war der Wealth of Nations – eines der einflussreichsten Bücher, die je geschrieben wurden – endlich geboren. Danach übersiedelte Smith in die Hauptstadt Edinburgh, wo er zum königlichen Zollrevisor ernannt worden war.

Den dortigen Weg vom Wohnhaus zum Büro, die beide in der Altstadt lagen, legte Smith zumeist zu Fuß zurück. Bekleidet war er, der nunmehrige Herr Zollrevisor, gewöhnlich mit Kniebundhose, mit weißen Seidenstrümpfen und einem hellen Leinenmantel. Am Kopf trug er einen niedrigen, breitkrempigen Biberhut, der ihn vor den häufigen Regengüssen schützten sollte. In der linken Hand trug Smith oft einen Blumenstrauß, und in der rechten einen Spazierstock, den er – wie ein Soldat seine Muskete – schulterte. Beim Gehen neigte Smith den Kopf von einer Seite zur anderen, so als wolle er bei jedem Schritt die Richtung ändern. Manchmal bewegten sich seine Lippen, und er lächelte, in ein anregendes Gespräch mit einem unsichtbaren Partner vertieft. Als Smith eines Tages am Markt vorbei defilierte, so erzählte er später selbst, meinte eine Marktfrau zur anderen: >Daß man einen, der so übergeschnappt ist wie der, allein herumlaufen lässt! Wo er doch, gutgekleidet wie er ist, genügend Freunde haben müsste.<

I. Der Ökonom

Im Frühjahr 1776 hatte Smith in London den berühmten Wealth of Nations (eigentlich: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, also >Eine Untersuchung über Natur und Ursachen des Wohlstands der Nationen<) veröffentlicht. Obwohl seine Freunde meinten, dass dieses sperrige, über 1000 Seiten lange Werk wohl nur mühsam seine Leser finden werde, entpuppte sich das Buch als wissenschaftlicher Bestseller: Die erste Auflage war nach sechs Monaten verkauft; eine erste Übersetzung, und zwar ins Deutsche (!), erschien noch im Jahr der Erstveröffentlichung; und zu Smiths Lebzeiten wurde das Buch immerhin fünfmal neu aufgelegt. Die französische Revolution und die darauf folgenden Ereignisse setzten dem Interesse an Smiths liberaler Gedankenwelt vorerst allerdings ein Ende. Aber eine Bemerkung von Alexander von der Marwitz, am Vorabend der Schlacht von Jena, sollte sich als prophetisch erweisen: >Nach Napoleon ist Adam Smith der mächtigste Monarch Europas.<

Im Wealth of Nations fragt der Autor als erstes nach den möglichen Ursachen des Reichtums eines Landes. Smiths zunächst etwas überraschende Antwort: Entscheidend ist Arbeit und, insbesondere, Arbeitsteilung. Mit dieser Behauptung widersprach Smith den beiden Schulen, die damals das Denken über die Wirtschaft eines Landes dominiert hatten: den Physiokraten, die den Produktivfaktor >Boden< (und damit die Rolle der Landwirtschaft) überbetonten; und, vor allem, den Merkantilisten, welche die Bedeutung des Geldvorrates und des Außenhandels überschätzten. Nach merkantilistischer Lehre solle der Export von Waren gefördert werden, damit Geld ins Land fließe, und der Import von Waren erschwert werden, damit Geld im Land bleibe. Deshalb setzten Merkantilisten in ihrer Wirtschaftspolitik auf Exportförderung und Importbeschränkung.

Aber Smith zufolge sind nicht so sehr Boden und Geldvorräte ausschlaggebend, vielmehr seien es Arbeit und, insbesondere, deren Teilung. Sind diese Bedingungen gegeben, so wird Geld ins Land fließen; sind sie es aber nicht, dann wird Geld das Land unweigerlich verlassen. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Grundgedanke durch die ersten beiden Bücher des Wealth of Nations: Die Teilung der Arbeit erhöht deren produktive Kräfte.

Smith berühmtestes Beispiel zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts verdanken wir dem Besuch einer Stecknadelmanufaktur: Ein Arbeiter, so beobachtet Smith, selbst wenn er sehr fleißig ist, kann allein "höchstens eine, sicherlich keine zwanzig Nadeln" pro Tag herstellen. Ist jedoch die Arbeit geteilt (der eine "zieht den Draht, der andere streckt ihn, ein dritter schneidet ihn, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter schleift das obere Ende, damit der Kopf aufgesetzt werden kann, …") … ist also die Arbeit geteilt, so produziert ein Arbeiter das 240 bis 480fache. Die Ursachen dieser Produktivitätssteigerung sind "größere Geschicklichkeit" – das Ergebnis von Spezialisierung -, sowie die "Ersparnis an Zeit, die gewöhnlich beim Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen verloren geht"; und schließlich die "Erfindung einer Reihe von Maschinen, welche die Arbeit erleichtern, die Arbeitszeit verkürzen und den einzelnen in den Stand setzen, die Arbeit vieler zu leisten".–

Smiths Reisen nach England und Frankreich, aber auch lange Aufenthalte in seiner Geburtsstadt, der früh industrialisierten Hafenstadt Kirkcaldy, belehrten ihn, dass in der Wirtschaft des Landes Arbeitsteilung und Spezialisierung immer mehr zunahmen. Aber wie können dann, bei so großer Ausdifferenzierung, die Erzeugung und der Verbrauch von Gütern am besten gesichert werden? Smiths berühmte und vieldiskutierte Antwort: Durch die >Unsichtbare Hand< des Marktes, indem es den Individuen im Rahmen der Gesetze frei stehe, nach eigenem Gutdünken ihre Lebenssituation zu verbessern. Dadurch werde die Erzeugung und der Verbrauch der Güter optimal gefördert – und damit der Reichtum eines Landes.

Der freie Wettbewerb der Individuen ist die Grundforderung des wirtschaftlichen Liberalismus, als deren Ahnherr Adam Smith gilt. Aber der Autor des Wealth of Nations hat, bei sorgfältigerer Lektüre, diese Auffassung nur mit wichtigen Einschränkungen vertreten. Denn er sah mit aller Deutlichkeit, daß der Arbeitsteilung auch negative Folgen eigen sind, die durch Eingriffe des Staates in den Marktprozeß korrigiert werden müssen. Die produktiven Kräfte der Arbeit werden durch deren Segmentierung gewaltig erhöht, aber zugleich verkümmern – auf längere Sicht gesehen – dadurch die geistigen Fähigkeiten der Arbeitenden.

II. Der Moralphilosoph

Mit fortschreitender Arbeitsteilung, so fordert Smith, ist der Staat "einzugreifen gezwungen, um Korruption und Entartung der Massen zu verhindern". Denn die Arbeit der "überwiegenden Mehrheit wird nach und nach auf einige wenige Arbeitsgänge eingeengt, oftmals nur auf einen oder zwei". Nun formt die Arbeit "ganz zwangsläufig das Verständnis der meisten Menschen. Jemand, der tagtäglich nur wenige einfache Handgriffe ausführt, die zudem immer das gleiche oder ein ähnliches Ergebnis haben, verlernt, seinen Verstand zu gebrauchen." Ein solcher Arbeiter wird "stumpfsinnig und einfältig, wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann. Solch geistlose Tätigkeit beraubt ihn nicht nur der Fähigkeit, Gefallen an einer vernünftigen Unterhaltung zu finden oder sich daran zu beteiligen, sie stumpft ihn auch gegenüber differenzierteren Empfindungen wie Selbstlosigkeit, Großmut oder Güte ab, so dass er auch vielen Dingen gegenüber, selbst jenen des täglichen Lebens, seine gesunde Urteilsfähigkeit verliert."

Dasjenige, was ökonomisch vorteilhaft ist, nämlich die Arbeitsteilung, ist also gesellschaftlich bedenklich und eine Bedrohung für die Demokratie. Denn die Unsichtbare Hand des Marktes greift hier daneben, und die Sichtbare Hand des Staates muß ihr in den Arm fallen, um den Wohlstand der Gesellschaft zu sichern und zu fördern. Um der Entfremdung der Arbeitenden entgegen zu wirken, plädiert Smith für ein reiches staatliches Angebot an Bildung. Er konnte hier nahtlos an Jahrhunderte altes schottisches Wissen anknüpfen, wonach >Bildung und Erziehung< einen ganz außergewöhnlichen Stellenwert in der Gesellschaft einnahmen; und er dürfte die Erfahrungen in der Grundschule in Kirkcaldy vor Augen gehabt haben, in der er sich sehr wohl gefühlt hatte und die sich durch große soziale Offenheit auszeichnete. Die Kinder des Großgrundbesitzers saßen neben den Kindern der Fischer, die wiederum neben den Söhnen des Nagelschmieds und denen der Kohlenarbeiter saßen. Smith, der später sechs Jahre lang an der englischen Eliteuniversität in Oxford studiert hatte, stellte Schottlands staatliches Erziehungssystem weit über das klassenbewußte englische Privatsystem, wo sich der Sohn von Lord Soundso neben dem Sohn von Lord Soundso neben dem Sohn von Lord Soundso würdevoll langweilte.

Nach Smith darf also nicht alles einfach dem Markt überlassen werden, vielmehr gibt es eine ganze Reihe von Aufgaben, die der Staat zu erfüllen hat. Eine allgemeine Bildung aller ist nur eine der Pflichten des Staates, der Bau und die Betreuung einer funktionierenden Infrastruktur ist eine weitere.

Smith nennt im Wealth of Nations mehrere notwendige Eingriffe des Staates in den Marktprozeß, aber er lieferte im ganzen Werk keine ethische Begründung für diese Forderungen. Smith hatte diese Aufgabe jedoch in der 1759 publizierten und mehrmals überarbeiteten The Theory of Moral Sentiments (>Die Theorie der ethischen Gefühle<) geleistet.

Schon in den ersten Sätzen machte der damalige Professor für Moralphilosophie an der Universität Glasgow deutlich, wovon das Buch handelt: Mag man den Menschen "für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen". So freuen wir uns, wenn andere sich freuen, und sind betrübt, weil andere "von Kummer erfüllt" sind. Weil Menschen soziale und – zumindest gelegentlich – auch altruistisch, also uneigennützig gesinnte Wesen sind, nehmen sie an der Situation anderer Anteil und fühlen sich mit ihnen solidarisch. Genau diese Behauptung der Existenz altruistischer Interessen in der Menschennatur ist der entscheidende Ausgangspunkt von Smiths Theorie der ethischen Gefühle.

Weil Menschen gesellige Wesen sind, ist ihnen das Urteil ihrer Mitmenschen keineswegs einerlei. Vielmehr streben sie nach deren Wertschätzung und sind – im Rahmen einer Sozialisierung – auch willens, Affekte und Ansichten so zu verändern, dass andere sie billigen und ihnen zustimmen können.

Aber neben diesen >geselligen< Affekten gibt es einen zentralen, wenn auch zumeist eher verkümmerten >ungeselligen< Antrieb, der einem genuin moralischen Leben zugrundeliegt. Es ist dies der Wunsch, nicht nur geliebt zu werden, also >Gegenstand der Wertschätzung anderer< zu sein, sondern wirklich liebenswert zu sein. Eben dieser Wunsch ist das entscheidende Motiv, über die konkrete Wertschätzung anderer hinaus nach Unparteilichkeit, nach der Perspektive eines Unparteiischen Betrachters zu streben.

III. Gleichgewichte

Smiths Name steht heute für die Auffassung, dass der Markt dann bestmöglich funktioniere, wenn der Staat überhaupt nicht eingreife, da sich dann von selbst das bestmögliche Gleichgewicht einstelle. Aber Smith verteidigte in Wirklichkeit keine solche Entstaatlichung der Gesellschaft, sondern etwas ganz anderes, nämlich die Auffassung, dass sich das bestmögliche Gleichgewicht erst dann einstelle, wenn auch der Staat seine Aufgaben gewissenhaft wahrnimmt; und dazu gehört neben Landesverteidigung, Exekutive und Legislative insbesondere Allgemeinbildung und Infrastruktur.

Kaum bekannt ist, daß Smith in seinem moralphilosophischen Werk noch für ein weiteres Gleichgewicht plädierte, nämlich für das der Ausgewogenheit in der Menschennatur. Der kultivierte Mensch, und Smith dachte hier ursprünglich wohl an den stoischen Weisen, fände zwischen egoistischen und altruistischen Antrieben, zwischen Selbstinteresse und Interesse am Wohl der Gemeinschaft eine Balance. In der Gesellschaft solcher Menschen wären Eingriffe des Staates in den Marktprozeß gerechtfertigt – und zugleich auf ein Minimum reduziert. Wie zumeist ignoriert wird, hatte Smith, der sich dem Klassizismus verpflichtet fühlte, sein philosophisches System nicht einfach >System der menschlichen Freiheit<, sondern das der "natürlichen Ordnung einer vollkommen Freiheit und Gerechtigkeit" genannt.

Im Alter von 67 Jahren, am 17.Juli 1790, starb Smith. Angesichts seines stattlichen Einkommens als Zollrevisor und Privatlehrer eines schottischen Lords war das vorhandene Vermögen, zur großen Enttäuschung des Erbneffen, recht bescheiden. Was Freunde schon seit langem vermutet hatten, war nun zur Gewißheit geworden: Smith hatte einen Großteil seines Geldes – oft heimlich – an Bedürftige verschenkt. Damit war auch eine Erklärung gefunden, weshalb bei seinem Begräbnis Menschen zu sehen waren, die den letzten Weg eines Universitätsprofessors üblicherweise nicht begleiten.

Wohltätigkeit war für den "Begründer der Wirtschaftswissenschaft" (J. Schumpeter) also nicht nur eine Sache des Herzens, sondern auch der Hände.

 

Literatur

Andree, G.J.: Sympathie und Unparteilichkeit. Adam Smiths System der natürlichen Moralität. Paderborn 2003.

Ross, I.S.: Adam Smith – Leben und Werk. Düsseldorf 1998 (Oxford 1995).

Streminger, G.: Adam Smith. Rowohlt-Bildmonographie. Reinbek 1989 (2.Aufl. 1999).

–: Der natürliche Lauf der Dinge. Essays zu Adam Smith und David Hume. Marburg 1995.

* Ich möchte mich bei Heinz Musker für einige wertvollen Hinweise bedanken.



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