Peter Singer (Melbourne)

Je mehr wir für andere leben,
desto zufriedener leben wir

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, Sonderheft Nr. 1/1995, Schwerpunkt Peter Singer, S. S. 80-82


Ich bin nie religiös gewesen. Ich wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Familie jüdischer Abstammung auf, die von Österreich nach Australien ausgewandert war. Meine Eltern waren weder religiös noch hielten sie sich an die jüdischen Traditionen, obwohl meine Großmutter, die bei uns wohnte, an bestimmten Feiertagen fastete. Sie hatte den Krieg in Theresienstadt, einem Konzentrationslager der Nazis, verbracht und war die einzige von meinen Großeltern, die Hitlers Versuch, alle Juden auszurotten, überlebt hatte. Somit gehörten der Nationalsozialismus, der Krieg und all das Leiden und Sterben, das gerade stattgefunden hatte, zu dem geistigen Hintergrund meiner Kindheit. Angesichts eines solchen Ausmaßes von Leiden setzte es mich immer wieder in Erstaunen, wenn jemand ernsthaft glauben konnte, daß die Welt von einem liebenden, allmächtigen Gott gelenkt werde.

Meine Eltern schickten mich auf eine der besten Privatschulen Melbournes, die von der Presbyterianischen Kirche gegründet worden war und ihr gehörte, denn sie dachten, daß eine Privatschulerziehung meine Erfolgsaussichten im späteren Leben verbessern würde. Daher nahm ich sechs Jahre lang morgens vor dem Unterricht an einer religiösen Veranstaltung teil mit Bibellesung, Choral und Gebet; außerdem gab es regelmäßige Gottesdienste in der Kapelle und Religionsstunden. So hatte ich viel Zeit, in der Bibel zu blättern und die Abschnitte zu lesen, die uns nicht vorgelesen wurden. Abgesehen von den bekannten Stellen aus dem Alten Testament, die uns als Schuljungen besonders interessierten, weil wir sonst wenig Gelegenheit hatten, etwas über Sex zu erfahren, fühlte ich mich von Markus, Kapitel 11, betroffen, wo berichtet wird, wie Jesus zu dem Feigenbaum kam, in der Hoffnung, daß er Früchte daran fände; aber der Baum hatte keine Früchte, »denn es war nicht die Zeit für Feigen« - woraufhin Jesus ihn prompt verfluchte, und am nächsten Morgen war der Baum verdorrt. Eine solche selbstsüchtige und zügellose Ungeduld schien mir wenig zu einem großen Lehrer der Ethik zu passen, und schon gar nicht zu einem göttlichen Wesen. Die Episode von den Gardarenischen Säuen, die bei Markus in Kapitel 5 erzählt wird, zeigte einen ebenso rücksichtslosen Charakterzug des Gottessohnes: Warum sandte er die unsauberen Geister in die Schweine, die sich dann im Meer ertränkten, wenn er die Teufel vermutlich ebenso leicht in eine Staubwolke hätte verwandeln können? Ich fragte unsere Religionslehrer nach einer Erklärung, aber sie sprachen nur dunkel von Geheimnissen, die sich unserem Verständnis entzögen, und trugen somit zu meiner Überzeugung bei, daß religiöse Menschen, jedenfalls in Sachen der Religion, lächerlich leichtgläubig sind.

Woran glaube ich denn nun anstelle der Religion? Ich bin oft danach gefragt worden. Aber diese Frage wird nicht richtig formuliert. Warum sollte ich denn an etwas glauben? Warum soll ich nicht einfach das glauben, was durch vorhandene Beweise und die besten Vernunftsgründe gesichert ist, zumindest so lange wie ich keinen guten Grund habe, etwas anderes zu glauben. Mit anderen Worten: Bleibe aufgeschlossen und nutze deine kritischen Fähigkeiten! Es besteht keine Notwendigkeit, sich sonst auf irgend etwas festzulegen. Das Sicherste scheint mir im Augenblick zu sein, daß ich ein Mitglied der Gattung Homo sapiens bin, einer Tiergattung, die sich wie andere auf unserem Planeten entwickelt hat, gemäß der wissenschaftlichen Theorie, die Darwin zuerst vorlegte, und die andere seitdem verbessert, ausgearbeitet und verteidigt haben.

Ist das alles, was dazu zu sagen ist? Viele wollen tiefergehende, philosophische Fragen stellen. Was für einen Sinn hat ein Leben, das sich einfach entwickelt hat? Wenn unsere Existenz das Ergebnis blinder Evolutionskräfte ist, zwingt uns das dazu, unser Leben als letztlich sinnlos anzusehen? Die Antwort ist sowohl "Ja" als auch "nein". Wenn Menschen nach dem »Sinn des Lebens« fragen, suchen sie oft nach einer umfassenden Sinngebung für das ganze menschliche Dasein in bezug auf irgendeinen Plan oder eine Absicht, die höher ist als unsere eigene. Da es aber einen solchen Plan oder eine solche Absicht nicht gibt, kann unser Leben offensichtlich einen Sinn dieser Art nicht haben.

Es ist aber ein großer Fehler zu meinen, daß darum unser Leben bedeutungslos sei oder, schlimmer noch, von da zu einer Art Nihilismus zu kommen, der sagt, daß es »auf nichts ankomme«. Im Gegenteil, unser Leben und was wir damit anfangen, kann für andere einen großen Unterschied ausmachen, und weil das so ist, können wir unser Leben so gestalten, daß es zählt, daß es wirklich von Bedeutung ist. Um es ganz einfach auszudrücken: Es gibt Milliarden von lebenden und fühlenden Wesen. Für jedes von ihnen kann das Leben gut oder schlecht verlaufen. Sie können gezwungen sein, elende Qualen zu erleiden, oder sie können ein Leben führen, das angenehm, vielleicht sogar voller Freude ist. Obwohl Schmerz nicht immer nur etwas Negatives sein muß, weil Gutes daraus entstehen kann -, sind Schmerz und Leiden in sich immer schlimm. (Selbst wenn aus dem Leiden Gutes entstehen kann, wäre es besser, wenn das Gute ohne das Leiden kommen könnte.) Dies kann einfach nicht bestritten werden, wenn wir die Sache von einem allgemeinen Standpunkt aus betrachten. Wir alle wünschen, daß unsere Schmerzen aufhören, falls wir nicht hoffen, daß etwas Gutes daraus entsteht, das höher ist; es gibt jedoch keinen Grund dafür, daß - von einem universalen Standpunkt aus gesehen - unsere eigenen Schmerzen und Leiden wichtiger sein sollten als die Schmerzen und Leiden anderer. Infolge dessen kann unser Leben zumindest diesen Sinn haben: wir könnten die Welt ein klein wenig besser hinterlassen, als sie es gewesen wäre, wenn wir nie existiert hätten. Wir können dies erreichen, indem wir die Schmerzen und Leiden der Geschöpfe in dieser Welt verringern; oder umgekehrt, indem wir ihnen zu mehr Glück und Freude verhelfen.

Dies ist nur ein großer Abriß dessen, was ich sagen würde, wenn dies ein Buch über Ethik wäre und nicht nur eine kurze Stellungnahme. Denn es sind nicht nur Schmerzen und Leiden, auf die es ankommt. Es geht im Leben um mehr als das; all die Wünsche und Hoffnungen von Menschen, und auch von nichtmenschlichen fühlenden Wesen, sollten in einem Bericht über das, was letztlich wichtig ist, eine Rolle spielen. Schmerzen und Freuden sind wichtig. Ihre Bedeutung ist leicht zu begreifen, weil sie so allgemein sind; sie sind das grundlegende Mindestmaß dessen, was wir alle verstehen können. Und weil großer Schmerz dazu neigt, alle anderen Werte zu überlagern, und solange es so viel unnötiges Leiden in der Welt gibt, hat die Reduzierung von Schmerz und Leiden offensichtlich ganz unbestrittene Priorität, im Unterschied z.B. zur Förderung der Gastronomie. Zu meinen engsten Freunden und Kollegen gehört Henry Spira- obwohl er auf der anderen Seite der Welt lebt - ein Amerikaner, der sich sein Leben lang für die Rechte der Afro-Amerikaner im amerikanischen Süden eingesetzt hat, für Arbeiter, die von korrupten Gewerkschaftsbossen ausgebeutet werden, für Laborratten, die zu Tode vergiftet werden, um Lebensmittelfarben zu testen, und Hühner, die in Legebatterien gehalten werden, nur um des Profits der Farmer willen. Spira beurteilt den Wert dessen, was Menschen tun, danach , in welchem Ausmaß sie zu der »Reduzierung der Welt von Schmerz und Leiden« beigetragen haben. Als er kürzlich in einem Interview gefragt wurde, was er als Grabinschrift haben wollte, antwortete er mit typischem New Yorker Humor: »Er schob die Erdnuß ein wenig vorwärts.« Mit anderen Worten, Spira wird sein Leben für lebenswert halten, wenn gesagt werden kann, daß er die Dinge ein klein wenig in die richtige Richtung bewegt habe.

Wir können alle die Erdnuß vorwärts schieben, und wenn es auch nur ein wenig ist. Wir alle können uns und unsere Bemühungen mit der langen Tradition von Menschenfreunden in Einklang bringen, die versucht haben, die Welt ein bißchen besser zu machen. Sobald wir dies einmal verstanden haben, brauchen wir uns keine Gedanken mehr über einen Mangel an Sinn in unserem Leben zu machen - auch werden wir kaum noch Zeit haben, darüber nachzudenken. Da ist einfach zu viel zu tun. Menschen, die gelangweilt sind, die unter einem Gefühl der Sinnlosigkeit leiden, die meinen, sie seien bedeutungslos, sind oft die Gefangenen selbstbezogener Wünsche. Unsere eigenen Freuden sind nicht weniger wert als die von anderen, aber für diejenigen unter uns, die ein bequemes Leben in einer entwickelten Überflußgesellschaft haben, ist das Vergnügen, das sie aus selbstbezogenen Aktivitäten ziehen können, relativ unbedeutend im Vergleich zu dem, was sie für andere tun können. Diejenigen, denen ein Ziel in ihrem Leben fehlt, müssen begreifen, daß das, was sie mit ihrem Leben anfangen, einen wirklichen Unterschied ausmachen kann. Sie werden dann ein merkwürdiges Paradox entdecken, über das sich schon viele Schriftsteller geäußert haben: je mehr man für andere da ist, um so befriedigender wird das eigene Leben.

Aus Karlheinz Deschner (Hg.): Woran ich glaube, Gütersloh 1993 mit freundlicher Genehmigung des Gütersloher Verlagshauses



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