Peter Singer (Melbourne)

Die Ethik der Embryonenforschung

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, Sonderheft Nr. 1/1995, Schwerpunkt Peter Singer, S. S. 83-87


Von all den Fragen, die durch die moderne Reproduktionsmedizin aufgeworfen werden, ist die nach dem moralischen Status des Embryos wohl die umstrittenste. Vor ihr stehen wir beispielsweise dann, wenn wir mehr Eizellen befruchten, als wir in die Gebärmutter geben wollen, oder Embryonenforschung betreiben möchten.

Die Forschung an Embryonen stellt uns bedeutende medizinische Fortschritte in Aussicht. Zu den ersten und unmittelbarsten gehört die Verbesserung der In-vitro-Fertilisation. Wenn es uns nicht gelingt, die Erfolgsrate der In-vitro-Fertilisation zu erhöhen, bleibt es fraglich, ob sie das Geld wert ist, das wir gegenwärtig für sie ausgeben. Australische Forscher sind außerdem an der Embryonenforschung interessiert, weil sie gerne sicherstellen würden, daß sich auch diejenigen Embryonen normal entwickeln, die aus tiefgefrorenen menschlichen Eizellen erzeugt werden. Zudem möchten sie verschiedene Techniken der "Mikro-Injektion" testen - also Verfahren, bei denen die Spermien direkt in die Eizelle eingebracht werden -, da sich mit ihrer Hilfe zumindest jene Formen männlicher Unfruchtbarkeit reduzieren ließen, die durch abnormale Spermien oder eine zu geringe Spermienzahl bedingt sind. Das nächste Forschungsziel wird die Vermeidung genetischer Defekte sein. Wenn solche Defekte schon bei frühen Embryonen erkannt werden, können sich erblich belastete Eltern für eine In-vitro-Fertilisation entscheiden, bei der nur die gesunden Embryonen transferiert werden. Dies würde Frauen davor bewahren, genetisch defekte Embryonen - wie bisher - selektiv abtreiben zu müssen. Weitergehende Forschungen könnten auch zur Entwicklung einer Gen-Therapie führen, die beispielsweise in solchen Fällen anwendbar wäre, in denen Individuen bereits mit einem mono-genetischen Defekt wie Thalassämie, Sichelzellenanämie, ADA-Mangel oder dem Lesch-Nyhan-Syndrom geboren wurden.

Die langfristigen Fortschritte sind sogar noch dramatischer. Dazu zählen u.a. ein besseres Verständnis der Entwicklung von Krebszellen, sowie schnellere und zuverlässigere Methoden, um zu prüfen, ob neue Arzneimittel bei schwangeren Frauen eventuell Fruchtschäden hervorrufen. Die Verwendung von Embryonen könnte auch eine Alternative zu den gesetzlichen Sicherheitstests bieten, bei denen gegenwärtig vielen Tieren beträchtliches Leid zugefügt wird. Was die klinische Anwendung betrifft, so könnte die Kultivierung von Blut-Stammzellen die Heilung von Krankheiten wie Sichelzellenanämie und Leukämie ermöglichen; und schließlich mag es sogar möglich sein, isolierte Organe zu entwickeln, die - in-vitro kultiviert - dazu verwendet werden könnten, kranke Organe von Kindern und Erwachsenen zu ersetzen.

Ist eine solche Forschung akzeptabel? Ich meine: Ja! Sobald wir bereit sind, uns von einem Weltbild zu befreien, das auf einigen spezifisch religiösen Prämissen beruht, werden wir einsehen, daß der frühe Embryo kein Recht auf Leben haben kann. Um es vorläufig auf einen Punkt zu bringen, der als grobe Annährung an unsere spätere Antwort dienen kann: So wie wir den Hirntod als das Ende einer Person betrachten, sollten wir das Hirnleben als den Beginn einer Person betrachten. Vor diesem Zeitpunkt können wir den Embryo daher mit Einwilligung derer, aus deren Ei- und Samenzelle er sich entwickelt hat, zur wissenschaftlichen Forschung verwenden.

Ich werde nicht weiter ausführen, aus welchen Gründen ich diese Ansicht vertrete, denn das habe ich bereits an anderer Stelle getan. Mein Kerngedanke ist, daß das Standard-Argument, mit dem man dem Embryo ein Recht auf Leben zuzusprechen sucht, auf einer Wortverdrehung beruht. Dieses Argument lautet bekanntlich: Jedes menschliche Wesen hat ein Recht auf Leben. Der menschliche Embryo ist ein menschliches Wesen. Also hat auch der menschliche Embryo ein Recht auf Leben!

Die Wortverdrehung liegt in der Verwendung des Begriffs "menschliches Wesen". Ohne jeden Zweifel ist der Embryo ein menschliches Wesen in dem Sinne, daß er ein Mitglied der Spezies Homo sapiens ist. Aber ist der Embryo auch ein menschliches Wesen in dem moralisch relevanten Sinn, den wir meinen, wenn wir von menschlichen Wesen sagen, daß sie ein Recht auf Leben besitzen, das nicht-menschliche Wesen nicht besitzen? Wenn wir fragen, weshalb Menschen ein Recht auf Leben haben, das beispielsweise Hunde, Schweine oder Krallenaffen nicht haben, wird sich jede plausible, nicht-religiöse Antwort auf unsere überlegenen geistigen Fähigkeiten beziehen müssen - auf unser Selbstbewußstsein, unsere Rationalität, unser Sittlichkeitsgefühl, unsere Autonomie oder eine Kombination davon. Eigenschaften wie diese sind es, würden wir sagen, die uns zu "wirklichen Menschen" machen. Oder genauer: Eigenschaften wie diese sind es, die uns zu Personen machen. Wenn es aber dies ist, was wir meinen, wenn wir von menschlichen Wesen - oder besser: Personen - sagen, daß sie ein Recht auf Leben haben, dann wird sofort klar, daß der Embryo, insbesondere der frühe Embryo, kein menschliches Wesen ist. Der frühe Embryo besitzt keine der geistigen Fähigkeiten, die Mitglieder unserer Art von Mitgliedern anderer Arten unterscheiden. Der frühe Embryo hat kein Gehirn, ja noch nicht einmal ein Nervensystem. Man kann daher berechtigterweise annehmen, daß er über kein größeres Bewußtsein verfügt als, sagen wir, ein Salatblatt.

Es ist natürlich immer noch wahr, daß der menschliche Embryo ein Mitglied der Spezies Homo sapiens ist. Das ist ja, wie wir gesehen haben, auch der Grund dafür, daß man nur schwer bestreiten kann, daß der menschliche Embryo ein menschliches Wesen ist. Aber wir können nun erkennen, daß dies nicht die Bedeutung von "menschlichem Wesen" ist, die wir benötigen, damit das Standard-Argument zutrifft. Ein gültiges Argument darf seine zentralen Begriffe schließlich nicht in zwei verschiedenen Bedeutungen verwenden. Wenn die erste Prämisse wahr ist, wenn mit "menschlich" ein "Wesen mit bestimmten geistigen Fähigkeiten" gemeint ist, und die zweite Prämisse wahr ist, wenn mit "menschlich" ein "Mitglied der Spezies Homo sapiens" gemeint ist, dann bewegt sich das Argument offensichtlich auf einer Rutschpartie zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen, und ist damit ungültig.

Kann man das Argument retten? Offensichtlich kann man es nicht retten, indem man behauptet, daß der Embryo ein Wesen mit den geforderten geistigen Fähigkeiten ist. Das könnte auf einen späteren Zeitpunkt in der Entwicklung des Embryos zutreffen, auf den des frühen Embryos aber mit Sicherheit nicht. Wenn schon die zweite Prämisse nicht mit der ersten in Einklang gebracht werden kann, ist es dann vielleicht möglich, die erste Prämisse so zu vertreten, daß sie mit der zweiten vereinbar wird? Kann man so argumentieren, daß menschlichen Wesen nicht aufgrund irgendwelcher moralischer Eigenschaften ein Recht auf Leben zusteht, sondern weil sie - im Gegensatz zu Schweinen, Kühen, Hunden oder Salatblättern - Mitglieder der Spezies Homo sapiens sind?

Das ist ein gefährlicher Schachzug. Wer ihn macht, muß die Behauptung verteidigen, daß es die bloße Artzugehörigkeit ist, die für das Tötungsverbot entscheidend ist. Aber warum sollte die Artzugehörigkeit moralisch relevant sein? Wenn wir uns fragen, ob es falsch ist, ein Lebewesen zu töten, müssen wir sicherlich darauf achten, welche Eigenschaften es hat, nicht aber darauf, welcher Art es angehört. Wenn sich herausstellte, daß ET und ähnliche außerirdische Besucher sensible, denkende und planende Wesen sind, die genau wie wir Heimweh bekommen, dürfte man sie dann töten, nur weil sie nicht Mitglieder unserer Art sind? Sollten Sie irgendwelche Zweifel haben, dann stellen Sie sich dieselbe Frage gleich noch einmal, aber dieses Mal mit "Rasse" statt mit "Art". Wenn wir die Behauptung zurückweisen, daß die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse für das Tötungsverbot relevant ist, dann ist schwer einzusehen, warum wir dieselbe Behauptung akzeptieren sollten, wenn sie sich auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art gründet. Denken Sie daran, daß die Tatsache, daß andere Rassen ebenso fühlen, denken und für die Zukunft planen wie wir, vollkommen irrelevant ist, solange wir die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zur Bedingung für ein Recht auf Leben machen. Wenn wir dies berücksichtigen, bin ich sicher, daß wir zu der Schlußfolgerung gelangen, daß weder die Rassen- noch die Artzugehörigkeit für die Zuschreibung eines Lebensrechts relevant sein kann.

Das Potentialitäts-Argument

An diesem Punkt der Diskussion ändern die, die dem Embryo ein Recht auf Leben zusprechen, zumeist ihre Strategie. Sie sagen dann: Wir sollten den moralischen Status des Embryos nicht auf die geistigen Eigenschaften gründen, die er besitzt, solange er ein Embryo ist, sondern auf sein Potential - auf das, was er zu werden vermag!

Nehmen wir einmal an, daß ein Wissenschaftler zwei reife Eizellen von zwei Frauen erhalten hat - nennen wir sie Jane und Mary. Beide hoffen, daß ihre Eizellen mit dem Sperma ihrer Männer befruchtet und anschließend in ihre Gebärmutter übertragen werden. Jane hat sich zuerst der Laparoskopie unterzogen; ihre Eizelle wurde vor ein paar Stunden mit dem Sperma ihres Mannes in eine Petri-Schale gegeben. Wie der Wissenschaftler feststellen kann, hat die Befruchtung bereits stattgefunden. In Marys Fall ist das anders: Da das Sperma ihres Mannes gerade erst in das Schälchen getan worden ist, hat noch keine Befruchtung stattfinden können. Da das Labor aber eine Erfolgsrate von 90% hat, darf der Wissenschaftler davon ausgehen, daß die Befruchtung innerhalb der nächsten Stunden erfolgen wird. Viele würden nun sagen, daß es weit schlimmer wäre, wenn man Janes Embryo zerstörte, als wenn man Marys Eizelle zerstörte. Aber warum? In beiden Fällen würde man eine potentielle Person zerstören. Der einzige Unterschied wäre der, daß es eine etwas größere Wahrscheinlichkeit dafür gibt, daß sich aus dem, was in Janes Petri-Schale ist, eine Person entwickelt, als daß sich aus dem, was in Marys Petri-Schale ist, eine Person entwickelt. Wenn wir die beiden Fälle dennoch unterschiedlicher beurteilen, als es das Gefälle der Wahrscheinlichkeiten rechtfertigt, dann kann es unmöglich die Verhinderung einer potentiellen Person sein, die diese Zerstörung falsch macht.

Wenn es diesem Beispiel nicht gelingt, irgendeine relevante Bedeutung des Potentials aufzudecken, die den Unterschied zwischen dem Embryo einerseits und den Ei- und Samenzellen andererseits erklärt, so wünschte ich mir, daß diejenigen, die der Meinung sind, daß es eine solche Bedeutung gebe, dies auch deutlich zeigten. Ich glaube nicht, daß es sie gibt. Ich kann verstehen, daß es einen Unterschied in der in vivo Situation geben mag, in der sich der Embryo ohne jeden menschlichen Eingriff zu einem Kind entwickeln kann, während sich die Ei- und Samenzelle nicht ohne einen speziellen menschlichen Akt weiterentwickeln. Im Labor aber sind sowohl die Ei- und Samenzelle als auch der Embryo auf menschliche Hilfe angewiesen, um sich weiterentwickeln zu können. Da sich die Wahrscheinlichkeiten, daß es zu einer solchen Weiterentwicklung kommt, nicht nennenswert voneinander unterscheiden, kann ich nicht sehen, weshalb es einen scharfen Unterschied hinsichtlich ihres Potentials geben sollte.

Die christliche Verteidigung des Embryos

Ich habe vorhin gesagt: "Sobald wir bereit sind, uns von einem Weltbild zu befreien, das auf einigen spezifisch religiösen Prämissen beruht, werden wir einsehen, daß der frühe Embryo kein Recht auf Leben haben kann". Das habe ich nun gezeigt. Aber manche mögen einwenden, daß diese anfängliche Eingrenzung des Argumentationsfeldes ungerechtfertigt ist. Jemand könnte sagen: Wie schwach auch immer die rationalen Argumente für ein embryonales Lebensrecht sein mögen, die religiösen Argumente sind stark genug, um gläubige Christen davon zu überzeugen, daß Embryonen wie menschliche Wesen behandelt werden sollten - und diese religiösen Argumente dürfen nicht von vornherein zurückgewiesen werden.

Es ist sicher richtig, daß die scharfe Trennung, die die meisten westlichen Gesellschaften zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen vornehmen, ein Erbe unserer jüdisch-christlichen Tradition wiederspiegelt. Weder der Buddhismus noch der Hinduismus erheben den Menschen derart über andere Lebewesen. Zwei christliche Vorstellungen sind wohl dafür verantwortlich, daß wir dem menschlichen Leben einen so hohen Wert beimessen: Die Vorstellung, daß jedes menschliche Wesen "nach dem Bilde Gottes" geschaffen wurde, und der Glaube, daß allein menschliche Wesen eine "unsterbliche Seele" besitzen.

Das erste, was man gegen eine religiöse Argumentation in der Debatte zur Embryonenforschung sagen könnte, wäre, daß es den Anhängern des Christentums natürlich unbenommen bleibt, derartige Glaubensvorstellungen zu akzeptieren, daß es aber gegen fundamentale Werte einer pluralistischen Gesellschaft verstößt, wenn religiöse Gruppen - egal wie groß sie sind - ihre Überzeugungen anderen aufzudrängen suchen. Solange die Einwände gegen die Embryonenforschung ausschließlich auf religiösen Argumenten beruhen, sollte ein pluralistischer Staat also keine gesetzlichen Zwangsmaßnahmen ergreifen, um Wissenschaftler daran zu hindern, mit Embryonen zu experimentieren, die ihnen von Patienten freiwillig gespendet wurden.

Vielleicht ist das schon alles, was gesagt werden muß. Warum sollte ein nicht-religiöser Autor wie ich auch den Glauben von Leuten kritisieren, die sich zu einer bestimmten Religion bekennen? Wenn die Kirchen nicht ständig versuchen würden, die Rechtsordnung und die Gesetzgebung zu beeinflußen, könnte ich es tatsächlich dabei bewenden lassen. Aber so muß ich hinzuzufügen, daß es selbst im Rahmen christlicher Glaubensüberzeugungen absurd erscheint, wenn man von Embryonen sagt, daß sie "nach dem Bilde Gottes" geschaffen wurden und im Besitze einer "unsterblichen Seele" seien. Wie soll man es verstehen, daß ein Embryo aus nur zwei Zellen "nach dem Bilde Gottes" geschaffen wurde? Wenn Menschen Gott ähnlicher sind als, sagen wir, Schimpansen, dann vermutlich wegen ihrer größeren geistigen Fähigkeiten. Aber ein Embryo verfügt nicht über diese Fähigkeiten! Worin könnte er Gott also ähneln? Vielleicht in seinem genetischen Code, der ihm gewissermaßen das Potential verleiht, sich zu einem Wesen mit höheren geistigen Fähigkeiten zu entwickeln als ein Schimpanse? Aber das ist ein unsicherer Boden für den Christen. Denn was müßte er dann von menschlichen Wesen sagen, denen aufgrund einer genetischen Abnormität selbst das Potential fehlt, sich zum Niveau eines Schimpansen zu entwickeln? Und ist es nicht in jedem Falle merkwürdig, daß ein Wesen Gott gleichen soll, weil es einen besonderen Satz Gene besitzt? Gibt es einen "genetischen Code" für Gott?

Wenn ein Christ auf diese Weise in die Enge getrieben wird, nimmt er für gewöhnlich zum zweiten Argument Zuflucht: Alle menschlichen Wesen, ob nun Embryonen oder genetisch Defekte, sind einem Schimpansen überlegen - nicht wegen ihrer Gene, sondern wegen ihrer "unsterblichen Seele". So fallen die beiden getrennten Argumente - nach dem Bilde Gottes geschaffen zu sein und im Besitz einer unsterblichen Seele zu sein - zu einem einzigen zusammen. Aber wie stark ist dieses zweite Argument? Der frühe Embryo ist ein Bündel von Zellen, von denen jede die Möglichkeit besitzt, sich zu einem eigenständigen Wesen zu entwickeln. Bis etwa zum 14. Schwangerschaftstag kann sich der Embryo in zwei oder mehr Embryonen teilen, so daß identische Zwillinge, Drillinge oder Vierlinge entstehen. Es ist sogar möglich, daß sich der Embryo teilt und später wieder zu einem einzigen Embryo zusammenwächst. Was passiert in diesen Fällen mit der Seele? Kann sich eine Seele - etwas Immaterielles - teilen und wieder vereinigen? Pater Norman Ford, ein berühmter australischer Theologe, hat die Schwierigkeiten erkannt, die entstehen, wenn man Wesen eine Seele zusprechen möchte, die viel eher einer Ansammlung unabhängiger Zellen gleichen als einem einzigen, unteilbaren Individuum. Er hat deshalb vorgeschlagen, daß es vielleicht solange kein Individuum gibt - und folglich auch kein beseeltes Wesen -, bis die Möglichkeit zur Zwillingsbildung vorüber ist, also ungefähr bis zum 14. Schwangerschaftstag. Das ist sicherlich plausibler als die Ansicht, daß die Seele schon unmittelbar bei der Empfängnis vorhanden ist. Aber wenn wir überhaupt an eine Seele glauben, warum sollten wir dann nicht annehmen, daß sie sich zusammen mit dem Verstand entwickelt, und daß, solange es kein Bewußtsein gibt, es auch keine Seele gibt? Das eigentliche Problem bei der Beantwortung solcher Fragen, besteht natürlich darin, daß das ganze Konzept einer "unsterblichen Seele", die die Zerstörung des Körpers überleben kann, so obskur ist, daß man überhaupt keine Grundlage findet, auf der sich eine überzeugende Antwort konstruieren ließe.

Eine positive Annäherung

Nachdem wir gesehen haben, wie unzulänglich die Versuche sind, dem frühen Embryo ein Recht auf Leben zuzusprechen, bleibt nur noch die Frage: Wann kann der Embryo überhaupt Rechte erlangen?

Die Antwort muß von den tatsächlichen Eigenschaften des Embryos abhängen. Eingangs hatte ich gesagt, daß wir in Analogie zu der weithin akzeptierten Idee, daß Menschen erst dann tot sind, wenn ihre Gehirne tot sind, sagen könnten, daß Menschen erst dann "leben", wenn ihre Gehirne leben. Aber das ist nur eine Annäherung. Der Hirntod ist ein plötzliches Ereignis, das Hirnleben eine allmähliche Entwicklung. Wonach wir suchen sollten, sind daher jene geistigen Entwicklungen, die moralisch wirklich relevant sind.

Die Eigenschaft, die ein Embryo mindestens besitzen muß, um einen Anspruch auf moralische Berücksichtigung zu haben, ist die Empfindungsfähigkeit. Denn solange er außerstande ist, irgendetwas zu empfinden, können wir ihm in keiner Weise schaden.Wir könnten ihm natürlich dann schaden, wenn er sich einmal zu einer Person entwickeln sollte, doch wenn er niemals eine Person wird, ist ihm auch nicht geschadet worden, zumal das völlige Fehlen des Bewußtseins jedes Interesse daran ausschließt, eine Person zu werden.

Im Gegensatz zum Embryo können Tiere wie Affen, Hunde, Kaninchen, Ratten oder Mäuse durchaus Schmerz empfinden. Dennoch wird ihnen im Rahmen wissenschaftlicher Forschung oft beträchtliches Leid zugefügt. Ich habe bereits gesagt, daß die bloße Artzugehörigkeit für den moralischen Status eines Wesens irrelevant ist. Warum ist man dann aber bereit, mit empfindungsfähigen Kaninchen zu experimentieren, nicht aber mit völlig empfindungslosen Embryonen? Erst wenn der Embryo imstande ist, Schmerzen zu empfinden, müssen wir ihn vor Experimenten schützen, denn erst wenn er diese Entwicklungsstufe erreicht hat, steht er mit den empfindungsfähigen Tieren moralisch auf einer Stufe. So wie wir sicherstellen sollten, daß den Embryonen kein Leid zugefügt wird, sollten wir auch sicherstellen, daß den Tieren kein Leid zugefügt wird.

Wann entwickelt der Embryo die Fähigkeit, Schmerz zu fühlen? Ich bin zwar kein Experte auf diesem Gebiet, aber nachdem ich die Fachliteratur gelesen habe, würde ich sagen, daß es unmöglich vor der sechsten Woche sein kann - möglicherweise sogar erst nach der achtzehnten oder zwanzigsten. Obwohl ich der Meinung bin, daß wir sehr vorsichtig sein sollten, scheint mir die 14-Tage-Grenze, die von der Warnock-Kommission vorgeschlagen worden ist, doch zu konservativ. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Embryo noch einige Zeit länger vollkommen empfindungslos ist. Selbst wenn wir alle nur erdenkliche Vorsicht walten lassen, würde eine 28-Tage-Grenze ausreichen, um Embryonen davor zu bewahren, unter Experimenten leiden zu müssen.



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