Rezension von Prof. Dr. Hans Schauer (Marburg)

Markus Kleine: Institutionalisierte Verfassungswidrigkeiten im Verhältnis von Staat und Kirchen unter dem Grundgesetz, Bd. 115 der Universitätsschriften "Recht" im Nomos-Verlag (Baden-Baden), 1993.

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik 2/1999, S. 188-192


Der Titel der Arbeit war mir sofort positiv aufgefallen, und ich habe mir das Buch daher bei nächster Gelegenheit ausgeliehen und durchgearbeitet. Die Redaktion von "Aufklärung und Kritik" hat mir auf meinen Vorschlag hin eingeräumt, in meiner Rezension auch auf diese Arbeit näher einzugehen. Mit seinem Hinweis hat Hense auf eine Dissertation aufmerksam gemacht, die wegen ihrer methodischen Sauberkeit, ihres rechtswissenschaftlichen Gehalts und ihrer kirchenpolitischen Konsequenzen als besonders wertvoller Beitrag zur juristischen Grundlagenforschung im Bereich des Kirchenrechts gelten kann und die daher verdient, hier ausführlicher gewürdigt zu werden, zumal sie in "Aufklärung und Kritik" bisher noch nicht rezensiert worden ist.

Während Hense von Anfang bis Ende seiner Arbeit immer wieder auf verfassungsfremde Begriffe wie Gewohnheitsrecht, Volksfrömmigkeit, Traditionswahrung, kirchliches Selbstverständnis usw. rekurriert, bezieht sich Kleine in seinem streng methodischen Vorgehen primär auf den Text unserer Verfassung, wie ihn jeder lesen kann, der die deutsche Sprache beherrscht und wie er im Konsens der Verfassungsjuristen eindeutig auslegbar ist (und falls nicht, dann eben eindeutiger formuliert werden sollte). Kleine erläutert dieses methodische Vorgehen in einem eigenen Methodenkapitel (S. 125 – 147), in dem er die Rückbindung juristischer Methodik an das Rechtsstaatsgebot fordert und selbst demonstriert. Der Jurist habe die in den Entscheidungsvorgang einfließenden Elemente nach rechtsstaatlich kontrollierbaren methodischen Regeln zu gewinnen. Die Verfassungsgebundenheit der Gesetzgebung, die Rechts- und Verfassungsgebundenheit aller sonstigen Staatstätigkeit und allgemein die Rechtsbestimmtheit staatlichen Verhaltens erfordere, daß juristische Arbeitsweise von Methodenklarheit, Normklarheit, Tatsachenbestimmtheit, Übermaßverbot, Rechtssicherheit, Publizität und dem Prinzip der Unverbrüchlichkeit der Verfassung bestimmt werde (S. 225ff). Daß dies keine bloße Forderung bleiben muß, sondern weitgehend realisiert werden kann, dafür gibt die Arbeit von Kleine ein gutes Beispiel ab.

Kleine erhebt auch den Anspruch auf "Methodenehrlichkeit" (S. 129) und auf juristische Redlichkeit (S. 149), daß nämlich die ggf. unvermeidbaren irrationalen Faktoren der juristischen Entscheidung nicht mit Schweigen übergangen werden dürften, sondern daß vielmehr außerjuristische Wertungen, etwa daß eine Entscheidung unbefriedigend, unpraktikabel, unvernünftig sei, offen in die fachliche Debatte, in die rechtspolitische Diskussion und in den allgemeinen politischen Prozess der Meinungsbildung einzubringen seien (S. 129). Wenn sich wie in unserer Zeit der gesellschaftliche Grundkonsens abschwäche, sei ein Konfliktentscheidungsmaßstab notwendig, über welchen seinerseits Konsens bestehen müsse. Die normtextorientierte Interpretation sei wegen ihrer Rückbindung an die Verfassung ein solcher Maßstab, solange über die Beachtung der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung Übereinstimmung herrsche. Entscheidendes Kriterium der Verbindlichkeit einer gesetzlichen Entscheidungsgrundlage ist für Kleine somit der nachvollziehbare und damit kritisierbare Nachweis der Normtextorientiertheit (S. 133). Im Konfliktfall habe die auf Normtexte (insbesondere auf die Verfassung) bezogene Auslegung Vorrang vor den übrigen Elementen. Gegen den Wortlaut der Verfassung oder eines darin begründeten Gesetzes dürfe nur dann entschieden werden, wenn der Text nachweislich fehlerhaft oder mißverständlich sei.

In diesem Zusammenhang arbeitet Kleine die zentralen Prinzipien des Rechtsstaates und seiner Verfassung heraus, insbesondere die Gewaltenteilung, aber auch das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des freiheitlichen, säkularisierten Staates, den Bezug auf die Menschenrechte und die hohe Wichtigkeit der Individualrechtssphäre, die in der Voranstellung der Grundrechte im Grundgesetz zum Ausdruck gebracht werde. Kleine fordert dies alles nicht nur, sondern er hält sich daran, wenn er sich dann mit den kirchenrechtlichen Einzelproblemen befaßt. Zwar hat Kleine die Glocken-Rechtsproblematik nicht wie Hense zum zentralen Thema gemacht, aber ab Seite 114 befaßt sich Kleine auch mit diesen rechtlichen Problemen. Eine nützliche Klarstellung findet sich in Anmerkung 170 (S. 114): Zwar gehörten kultische Handlungen grundsätzlich zu den inneren kirchlichen Angelegenheiten im Sinne des Art. 137 Abs. 3 WRV; Kirchenglocken drängten aber "extra muros". Sie wirkten über den kircheninternen Bereich hinaus gegenüber einem Adressatenkreis, auf dessen konfessionelle Zugehörigkeit es gar nicht mehr ankomme (S. 121). Aus der Pflicht zur religiösen Neutralität folge, daß der Staat einer Religionsgemeinschaft keine Hoheitsbefugnisse (H.S.: offenbar auch nicht über die Luft- und Schallhoheit!) über Menschen verleihen dürfe, die ihr nicht angehörten.

Die verschiedenen Widersprüchlichkeiten in der Diskussion über den Rechtsstatus des Glockenläutens haben nach Kleine ihren Ursprung "im stets streitbefangenen Körperschaftsstatus der Kirchen" (S. 122). Hier müsse bedacht werden, "daß öffentliches Recht Sonderrecht des Staates ist und vielleicht doch nicht ganz die passende Form für Bekenntnisgemeinschaften" (S. 117). Eine nicht nur punktuell, sondern umfassend mit staatlicher Hoheitsgewalt ausgestattete Kirche wäre Staatskirche, und eben vom historisch-gesellschaftlichen Modell der Staatskirche leite sich die Verwurzelung der res sacrae (auch der Glocken) im öffentlichen Recht und ihre Verknüpfung mit dem Körperschaftsstatus ab (S. 120). Der Begriff der öffentlichen Sache sei jedoch "institutionell auf die staatliche Aufgabenerfüllung durch Darreichung einer sachlichen Verwaltungsleistung bezogen" und damit ein Rechtsinstitut, das bei seiner Übertragung auf den kirchlichen Bereich eine unzulässige Verflechtung von Staat und Kirche mit sich bringen würde. Gewohnheitsrecht contra constitutionem könne es jedoch nicht geben (ebd.).

Neben der Glockenproblematik behandelt Kleine auch andere Einzelfragen des Kirchenrechts wie den Religionsunterricht in der Schule, die Kirchensteuer, die Finanzierung theologischer Fakultäten usw. Zentral ist aber sein Interesse an der Klärung der auf Kirchenangelegenheiten beziehbaren Festlegungen unserer Verfassung. Mit diesem Thema befaßt er sich im Kapitel "Das Verbot der Staatskirche und das Gebot weltanschaulicher Neutralität" (S. 148ff). Kleine geht dabei konsequent vom Art. 137 Abs. 1 WRV ("Es besteht keine Staatskirche") aus, der nach allgemeiner Ansicht eine Absage an jede institutionelle Verbindung von Staat und Kirche bedeute und als Grundnorm verstanden werden müsse. Zugleich sei dieser Artikel aber auch Ausdruck des aus dem systematischen Zusammenspiel verschiedener Grundgesetznormen erschließbaren Gebots weltanschaulicher Neutralität, durch die die Religionsfreiheit des Einzelnen gewährleistet werde (S. 149). Wir können also diese beiden Aspekte, nämlich die Laizität des Staates und die Religionsfreiheit des Einzelnen in einem Satz in Zusammenhang bringen: weder darf der Staat auf die Religionsausübung der Individuen Einfluß nehmen, noch darf umgekehrt die Religionsgemeinschaft Vorrechte im Staat beanspruchen und so auf den Staat – und über den Staat auf seine Bürger – Einfluß nehmen. Kleine führt dazu weiter aus: "Das Verbot staatskirchlicher Rechtsformen und das Gebot weltanschaulicher Neutralität werden ... im Verbot jeder institutionellen Verbindung von Staat und Kirche zusammengefaßt", und er zieht daraus die Schlußfolgerung, es sei hierbei "unstreitig, daß nicht nur eindeutig staatskirchliche Elemente wie das Kirchensteuereinzugsverfahren oder die Doppelstellung der Militärseelsorger als staatliche und kirchliche Beamte, sondern auch kirchliche Mitspracherechte bei den theologischen Fakultäten oder dem Religionsuntericht als Beispiele einer (H.S.: nach der Verfassung verbotenen) institutionellen Verbindung von Staat und Kirche gelten" (S. 150). Kleine stellt als Ergebnis seiner Analysen fest, daß wesentliche Inhalte des Art. 137 Abs. 5 u. 6, sowie Art. 141 WRV, die in den Artikel 140 des Grundgesetzes aufgenommen wurden, nicht vereinbar sind mit Art. 3 Abs. 3 GG (Gleichheit vor dem Gesetz bzw. Verbot der Benachteiligung oder Bevorzugung) und mit dem Art. 137 Abs. 1 WRV ("Es besteht keine Staatkirche"), und sie sind damit verfassungswidrig.

Ich will nun versuchen, das Ergebnis der sehr gründlichen Einzelanalysen von Kleine in eigenen Worten und unter Bezug auf die einschlägigen Artikel unserer Verfassung zusammenfassend wiederzugeben und stelle fest:

Da in der Bundesrepublik Deutschland (nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 WRV) keine Staatskirche besteht und – da das Grundgesetz keine historischen Feststellungen trifft, sondern juristische Normen setzt – auch nicht bestehen soll, darf niemand (Art. 3 Abs. 3 GG) und auch keine "juristische Person" oder Institution (Art. 19 Abs. 3 GG) wegen seines (bzw. wegen des von ihr vertretenen) Glaubens, seiner religiösen Anschauungen benachteiligt (diskriminiert) oder bevorzugt (privilegiert) werden. Die drei angeführten hochrangigen Verfassungsartikel machen zusammengenommen eindeutig klar, daß es nach ihrem Wortlaut von Verfassung wegen verboten ist (oder wenigstens verboten sein müßte!) religiöse Institutionen wie die katholische und die evangelische Kirche zu privilegieren durch Rechte, wie sie ihnen von anderen Artikeln derselben Verfassung eingeräumt werden: Kirchen werden privilegiert durch staatliches Eintreiben von Kirchensteuern (Art. 137 Abs. 6 WRV), durch die Heranziehung von kirchlich approbierten Lehrern zum Religionsunterricht in den Schulen (Art. 7 Abs. 2 u. 3. GG), durch Einbeziehung der beiden christlichen Konfessionen in die Rechtsform von Körperschaften des Öffentlichen Rechtes (Art. 137 Abs. 5 WRV), durch die Zulassung kirchlicher (= christlich-konfessioneller) Seelsorge in der Bundeswehr und in anderen öffentlichen Anstalten (Art. 141 WRV) und durch manche weitere über den Art. 4 Abs. 2 GG im Übermaß eingeräumte Ausnahmen, so auch in den Fragen des Glockengebrauchs entgegen dem Bundesimmissionsschutzgesetz.

Das Verbot der Privilegierung kirchlicher Institutionen läßt sich umformulieren in Verbote der damit verbundenen Benachteiligung von Individuen. Von Verfassung wegen ist es nicht nur verboten, Individuen wegen ihrer Religion oder ihres Unglaubens zu diskriminieren, sondern es müßte auch verboten sein, daß sie wegen ihrer Religion hinnehmen müssen, daß ihnen mehr Steuern vom Finanzamt abgezogen werden, oder aber daß sie wegen ihres Unglaubens genötigt sind, selbst dann, wenn sie ihre Kinder vom ordentlichen Lehrfach "Religionsunterricht" abgemeldet haben, den dies unterrichtenden Lehrer über Steuermittel mitfinanzieren zu müssen, und daß ihnen als wehrdienstpflichtigen Soldaten zugemutet wird, zu kirchlicher Unterweisung abkommandiert zu werden, daß sie religiöse Symbole (so einen am Kreuz zu Tode gequälten Menschen oder "Crucifixus") in Amtsstuben wie Schulen und Gerichten hinnehmen müssen, und eben auch, daß sie als Anwohner einer Kirche übermäßigen Glockenlärm auch dann ertragen müssen, wenn sie gar keine gläubigen Christen sind. Man sollte diese beiden Aspekte der Problematik, die Privilegierung der Kirchen und die Diskriminierung der Individuen eben doch zusammensehen: erst zusammengenommen "wird ein Schuh draus"! Oder, in von Kleine verwendeten Begriffen: die weltanschaulich-religiöse Freiheit des Individuums kann nur gewährleistet sein in einem laizistischen (weltanschaulich neutralen) Staat.

Wie konnte es nun zu solchen im Grundgesetz "institutionalisierten Verfassungswidrigkeiten im Verhältnis von Staat und Kirchen" kommen? Kleine geht dieser Frage in einem einführenden historischen Abschnitt (S. 28ff) nach, den ich hier an letzter Stelle referiere. Kleine verfolgt anhand der Literatur die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates 1948 und spricht in diesem Zusammenhang von einer "Scheu" der Ratsmitglieder vor einer Klärung staatskirchenrechtlicher Grundsatzfragen (S. 28) und von einer "vorsichtigen Zurückhaltung" der Abgeordneten (S. 32). Diese Haltung wird begründet unter anderem in Befürchtungen vor dem Ausbruch eines Kulturkampfes und im Respekt vor dem Widerstand der Kirchen gegen das Naziregime. Das letztere muß man allerdings nachträglich als eine fromme Lüge oder Selbsttäuschung ansehen: Mit Ausnahme einzelner Geistlicher und Kirchenführer waren doch die Kirchen, wie wir uns erinnern oder inzwischen wissen können, und wie wir es spätestens aus dem Buch von Hense lernen konnten, gegenüber dem Naziregime überaus "tolerant", um nicht zu sagen: opportunistisch bis komplizenhaft unterstützend. Jedenfalls sind die Kirchen aus dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft so gestärkt hervorgegangen, daß eine Diskussion über ihre Privilegien nicht angezeigt zu sein schien (S. 47). Es gab offenbar keine inhaltliche Diskussion über die einander widersprechenden Artikel des Verfassungsentwurfs. Grundsatzdiskussionen über die rechtliche Stellung der Kirchen im demokratischen Staat fanden überhaupt nicht statt. Stattdessen wurde eine Reihe von Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Art. 136 – 141 WRV) unverändert übernommen und als Artikel 140 in das Grundgesetz eingefügt. Überlegungen aber, wie diese Bestimmungen im Zusammenhang mit dem gesamten Grundgesetz ("in der Einheit der Verfassung") auszulegen wären, wurden nicht angesprochen; der rechtlich unbefriedigende, ja die Rechtsklarheit beeinträchtigende Formelkompromiß fand eine ausreichende Mehrheit. Ich frage: müssen wir mit diesem so faulen Kompromiß leben, trotz aller augenscheinlicher und gravierender Widersprüche innerhalb unserer geltenden Verfassung? Müssen wir es ausbaden, daß die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei der Verabschiedung dieser Verfassungsartikel geschlafen haben, oder wachend die Augen zugedrückt haben, oder unter Zeitdruck etwas hingenommen haben, was ihnen nicht so wichtig oder klärungsbedürftig zu sein schien? Nein, wir sollten darauf drängen, daß solche Unstimmigkeiten des Grundgesetzes beseitigt werden, natürlich unter Beachtung der für Änderungen des Grundgesetzes grundgesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensweisen. Die 1949 bei der Verkündung des Grundgesetzes aufgeschobenen Entscheidungen, vor allem den Art. 140 GG betreffend, müssen nun, unter inzwischen erschwerten Bedingungen, nachgeholt werden. Unsere Abgeordneten haben mit verfassungsändernder Mehrheit dafür Sorge zu tragen, daß die Rechte und Pflichten von Individuen und von Glaubensgemeinschaften eindeutig formuliert werden und zugleich unsere Verfassung von staatskirchlichen Elementen befreit wird.

Diese Forderung ist verfassungstheoretisch gut begründbar: Kleine geht davon aus, daß nur in sich widerspruchsfreie und mit der übrigen Verfassung im Einklang stehende Bestimmungen gewährleisten können, daß sie die für das Wirken der Kirche in der Gesellschaft notwendige dauerhafte Akzeptanz finden (S. 22). Notfalls müsse die Verfassung geändert werden, um nicht ihre Funktion als konsensfähige rechtliche Rahmenordnung für die Gesellschaft zu gefährden. Mit seiner Arbeit wolle er die Notwendigkeit einer verfassungspolitischen Entscheidung (nämlich das Grundgesetz in Richtung auf Widerspruchsfreiheit und im Bezug auf die Grund- und Menschenrechte zu ändern!) in den angesprochenen Bereichen des Staatskirchenrechts aufzeigen. Das ist Herrn Kleine vollauf gelungen! Und wenn wir ihm dafür danken wollen, sollten wir seine immer noch aktuelle Dissertation aufmerksam lesen und die darin angebotenen Entscheidungshilfen in eine konstruktive Arbeit an der Verfassung umsetzen.



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