Prof. Dr. Hubertus Mynarek (Odernheim)

Gedanken zur Logik der Macht

Veröffentlicht in Aufklärung und Kritik 1/1998, S. 27-33


Überall in der Welt von heute konstatieren wir das, was ich als Systemegoismus bezeichnen möchte, also als den Willen großer politischer, ökonomischer, finanzieller, militärischer etc. Institutionen, ihre Macht um jeden Preis zu erhalten, durchzusetzen und zu vermehren. Auch anerkannte Demokratien sind von diesem Systemegoismus nicht frei. Immer wieder und auf den verschlungensten Schleichpfaden versuchen auch sie, die Freiheit und die Rechte ihrer Bürger zu beschneiden oder einzuschränken. Das Unwesen der Beherrschung, Ausbeutung und bürokratisch-anonymen Verwaltung von Menschen durch Menschen ist auch im sogenannten demokratischen Rechtsstaat eine permanente Gefahr und zumindest partiell eine reale Erfahrung der Staatsbürger.

Einen charakteristischen Aspekt dieses Systemegoismus könnte man folgendermaßen umschreiben: Was ist (im Sinne eines etablierten Systems), will sein; obwohl Ernst Bloch recht hat mit seiner Kritik am Vorhandenen: "Was ist, kann nicht wahr sein". Die Mittel, deren sich ein System bedient, um sich an der Macht, in seinem Ist-Zustand zu behaupten, stehen dabei in bezug auf das Maß ihrer Brutalität in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis von seinem ideologischen, ökonomisch-finanziellen, militärischen und administrativen Machtpotential und dessen faktischer Effizienz. Der Selbstbehauptungs- und Überlebenswille eines Systems ist dabei auch zugleich sein Herrschaftswille, der jede zum Überleben notwendig erscheinende Repression einschließt und im Sinne der obersten Wertkategorie der Systemerhaltung heiligt. Auch die Verbrechen der Systemerhalter, der Staatstragenden, der Konzernchefs etc. erhalten dann einen höheren Sinn: "Der Zweck heiligt die Mittel!"

Konsequenter- und logischerweise versucht also jedes System, sich einen Heiligenschein zuzulegen, um seine Macht zu stabilisieren und zu steigern. Das gilt selbst für vom Ansatz und Start her a- oder anti-religiöse, also profane, säkularistische und atheistische Systeme. Sie alle nehmen mit der Zeit eine quasi-religiöse Färbung an, erhöhen und überhöhen sich mithilfe pseudo-religiöser Lehrsätze, Symbole, Rituale. Warum tun sie das? Weil den Machthabern, den Herrschenden, den Macht Anstrebenden das religiöse Element innerhalb ihres ideologischen Fundamentalismus als das erscheint, wodurch sie die Massen im Innersten, im Gewissen, am stärksten und verbindlichsten verpflichten, an ihn festbinden und festnageln können. Ein Stalinismus, ein Hitlerismus, ein Maoismus, ein Saddam Husseinismus usw. nimmt zwangsläufig mit der Zeit religiös-bombastische, absolutistisch-göttliche Züge an, weil selbst das perfekteste Orwellsche Überwachungssystem im Hinblick auf die zu beherrschenden Massen noch Lücken aufweist, im Vergleich zu dem die Gewissen und das Innerste bewegenden Religiös-Göttlichen (das »in die Herzen schaut«) noch ein zu äußerliches, zu wenig greifendes und fesselndes Korsett bleibt. Marx sah richtig, als er die Kritik der Religion als »die Voraussetzung aller Kritik« bezeichnete, weil auch alle profan-autonomen Bereiche wie Politik und Gesellschaft, Wirtschaft und Finanzwelt, Industrie und Technik die Tendenz haben, sich einen »Heiligenschein« zuzulegen, sich mit einer religiösen Aureole und Gloriole zu schmücken, um ihre negativen Aspekte zu verschleiern, mehr Durchschlagskraft zu gewinnen, höhere Ansprüche stellen zu können. (Für den Bereich der Technik habe ich das genauer demonstriert in meinem Buch Mystik und Vernunft, Kapitel IV-VII.)

Religiöser Fundamentalismus ist das stärkste, massivste, allerdings meist auch attraktivste und faszinierendste, die Massen am meisten einnehmende und einfangende Motiv, weswegen jede Machtpolitik stets bedacht sein wird, eine Religion oder Konfession für ihre Ziele einzuspannen. Kein Zufall, daß der römische Kaiser Konstantin das immer stärker werdende Christentum zur Staatsreligion machte, obwohl er zu dem Zeitpunkt selbst noch kein Christ war.

Je massiver selbst ein an sich nichtreligiösen Quellen entstammendes Herrschaftssystem wird, je rücksichtsloser es seine Ziele zu erreichen sucht, um so deutlicher werden seine religiösen Züge. Es stellt sich immer mehr dar als das einzig wahre und gute, unfehlbare und alleinseligmachende System. Insofern ist auch die Vitalität, mit der es auftritt, kein Kriterium für seine Wahrheit. Im Gegenteil: je vitaler, desto schlimmer!

Daß alle Herrschaftssysteme notwendigerweise religiös sind oder es mit Bestimmtheit werden, hängt auch mit der Absolutheits- und Unendlichkeitstendenz der menschlichen Natur zusammen. Der Mensch ist auf Absolutes, Unendliches aus, in seinem Erkennen und Forschen wie in seinem Wollen und Fühlen, in seinem Denken, Vorstellen und Lieben. Er will absolute Wahrheit, perfektes Glück. Aber es ist ebenso wahr und gültig, daß er dies nicht erreichen kann. Diese an sich unüberbrückbare Kluft zwischen unendlichem Wünschen und Wollen auf der einen und endlichem Können auf der anderen Seite, zwischen paradiesisch-utopischem Ideal und stets ernüchternden, weil hinter dem Ideal zurückbleibenden Realisierungen macht sich jedes Herrschaftssystem zunutze. Es verspricht die Überwindung der Kluft: »Wenn du dich für mich, für mein System entscheidest, kommst du ins Paradies, erlangst du das vollkommene Heil, berührst, nein, erreichst du das Absolute!« Die typisch religiöse Sprache ist hier lediglich deutlicher: »Wenn du meine Gebote befolgst, den Willen Jahwes, Allahs oder >meines Vaters<, d.h. des Christengottes, tust, wirst du ewig in paradiesischem Glück leben. Du erreichst dann und damit das, was dir sonst ewig unerreichbar bleibt, das durch nichts begrenzte oder beschränkte Göttlich-Unendliche.« Die Sprache zunächst einmal säkularistischer Systeme ist nicht so deutlich religiös, aber sie bedient sich ähnlicher anthropologischer und psychologischer Mechanismen, eben des Heilsversprechens, die erwähnte Kluft zu überbrücken. Insofern trägt jedes System die Gefahr der Heuchelei in sich. Sie liegt wesentlich auch in dieser religiösen Unbedingtheit, Totalität, Universalität und dem damit verbundenen falschen Enthusiasmus.

Religiöser Fundamentalismus ist der größte Betrug, weil er vorgaukelt, das Absolute, Unendliche, Metaphysische, auf das wir aus sind, aber das wir nie erreichen, unfehlbar zu kennen, zu haben, hier und jetzt anbieten zu können. Fundamentalistische Führer, Päpste, Propheten, Politiker, Könige, Gurus sind im allgemeinen nicht so dumm, nicht zu wissen, daß sie über das Absolute nicht verfügen können; vermutlich zweifeln auch sie manchmal daran, ob es das Absolute überhaupt gibt; oder sie sind zynisch genug, es für eine Illusion, für das »Opium des Volkes« zu halten. Aber aus ihrer Machtbesessenheit, ihrem Machtrausch heraus und dem Wissen, daß »nur das Absolute tröstet«, erheben sie etwas Relatives zum Absoluten, machen sie die Nation oder die Partei oder die Rasse, die Kirche oder die Konfession, den Profit oder die Klasse zum unbedingten, höchsten Wert, dem schrankenlose Verehrung und Anbetung gebühren, proklamieren sie eine Dreiviertel-, Halb- oder Viertelwahrheit als unumstößliche Heilswahrheit, als Dogma, erklären sie irgendein Dokument als Heilige Schrift. Merke: Herrschaftssysteme haben Dogmen und Schriften bitter nötig, denn sie liefern den Machthabern ein besonderes Treuekriterium. Nicht so sehr auf das gesprochene, sondern auf das geschriebene Wort kann man Menschen festnageln, ihre Abweichungen deutlich machen, sie der Ketzerei überführen. Orthodoxie steht und fällt mit dem geschriebenen Wort, der Heiligen Schrift. (Auch die Schriften der Klassiker des Marxismus galten praktisch als heilig, irrtumsfrei, unantastbar, obwohl sie faktisch in der Stalinzeit korrigiert bzw. Teile dem Volk der Arbeiter vorenthalten wurden. Aber das hat man mit der Bibel auch gemacht.)

Durch die Machtbesessenheit eines einzelnen oder einiger weniger, die sich der absoluten Glückssehnsucht der Massen, ihres unbegrenzten Heilsverlangens bedienen, kann es so zur fundamentalistischen Massenbewegung, zum kollektiven Wahn kommen.

Hier noch ein zeitgenössischer Beleg für die These, daß auch an sich nichtreligiöse Ideologien einen religiösen Charakter haben oder annehmen. Viele erinnern sich vielleicht noch an den Ausspruch Gorbatschows am Tag nach der Wiederaufnahme seiner Amtsgeschäfte nach dem mißglückten Putschversuch. Er stellte sich damals zum erstenmal überhaupt dem russischen Parlament. Die Abgeordneten bedrängen ihn, kritisieren das Verhalten der kommunistischen Partei im Zusammenhang mit dem Putsch, manche wollen ein Verbot derselben durchdrücken. Da wird Gorbatschow emotional, ja emphatisch: »Sozialismus, wie ich ihn verstehe, ist eine religiöse Überzeugung«, ruft er und fügt gleich hinzu: ihn aus der Sowjetunion zu verbannen, käme »einem Religionskrieg« gleich.

Latent und der Tendenz nach ist jedes System expansiv, hegt es im Grunde den totalen Weltbeherrschungswillen, weil jede noch nicht beherrschte Zone auf dieser Erde mit vom System abweichenden Lebensformen und Strategien in Politik, Wirtschaft und Kultur einen permanenten »Stachel im Fleisch«, eine kontraproduktive Konkurrenz, eine Dauerprovokation und Infragestellung des eigenen Systems darstellt und auch die eigenen Anhänger zum Abfall reizen könnte. Ganz explizit findet sich dieser Weltbeherrschungswille im Kommunismus und im Katholizismus, im letzteren mit seinem Dogma des universalen Jurisdiktionsprimats des Papstes über den ganzen Erdkreis und dem Dogma seiner Unfehlbarkeit in Sachen des Glaubens und der Moral. Über den ersteren, den sowjetischen Kommunismus schrieb Thomas Mann 1950: "Der heilige Schrecken, die neue Kirche, der neue universelle bindende Glaube ... ist gefunden: Das byzantinische Rußland ... schuf ihn; auf dem Grunde einer durchaus nichtöstlichen, sondern der Entwicklung des westlichen Industrialismus entstammenden pan-ökonomischen Welterklärung und Heilslehre von unbedingtem Wahrheitsgehalt errichtete es seine rechtgläubige, angeblich allein selig machende Kirche mit heiligen Büchern, einem sakrosankten Dogmengebäude und allem Zubehör. Da sie zugleich Staat ist, diese Kirche, so treibt sie Machtpolitik – wen wundert es? Welteroberung ist ein uralter Traum, und jeder Glaube will die Welt erobern."

Tatsächlich trägt jedes höher organisierte System den Weltbeherrschungswillen latent in sich. Kommunismus und Katholizismus sind in dieser Hinsicht nur ehrlicher bzw. waren es bis vor kurzem, solange sie es sich leisten konnten.

Eine weitere Systemeigenschaft, die zu seinem gerade charakterisierten Weltbeherrschungswillen nur scheinbar im Widerspruch steht: Systeme halten stets Ausschau nach anderen, sie stützenden und verstärkenden Mächten, was man als Gesetz der Machtaffinität bezeichnen könnte. Im Grunde will natürlich jedes System die Alleinherrschaft. Aber so lange es sich nicht mächtig genug fühlt, sie allein zu erringen, sucht es nach Partnern, die ihm dabei helfen könnten. Gerade im Augenblick erleben wir ja eine ganze Flut von Fusionen zwischen an sich miteinander konkurrierenden Medienkonzernen, zwischen Großbanken, zwischen industriellen Großunternehmen. Auch im verlegerischen Bereich ist die Machtkonzentration enorm. Im Grunde gibt es beispielsweise in Deutschland praktisch nur noch zwei Verlage, sprich: Verlagskonzerne: Holtzbrinck und Bertelsmann. Alle anderen Verlage mit größerem Umsatz sind längst von der Holtzbrinck- oder der Bertelsmann-Gruppe geschluckt. Man ist aber in der Chefetage dieser beiden Verlagskonzerne so "vornehm" bzw. so geschäftsklug, daß man den Verlagen, die man sich einverleibt hat, ihre traditionsreichen Namen beläßt, um die potentiellen Buchkäufer nicht zu verschrecken.

An das Gesetz der Machtaffinität von Systemen schließt sich der amoralische Charakter vieler ihrer Handlungen fast zwangsläufig an. Wenn sich ein System im Namen seines obersten Wertes, der Verstärkung und Erweiterung seiner Herrschaft, mit allen liiert, die ihm dazu verhelfen, kann es ihm selbstverständlich nicht darauf ankommen, ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, ein Nein zur Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen, die Ausschaltung von Ursachen der Ungleichheit und Unterdrückung zu bewirken. Es geht nur noch um die Sicherung der eigenen Existenz, ihre Stärkung und Expansion um jeden Preis, per fas et nefas. Im politischen Bereich haben wir das klassische Beispiel des Hitler-Stalin-Paktes: Zwei so diametral entgegengesetzte Systeme wie Kommunismus und Nationalsozialismus verbünden sich, um ein kleineres Machtsystem, nämlich Polen, völkerrechtswidrig zu schlucken. Im historischen Bereich, der Geschichte der letzten zwei Jahrtausende, haben wir ein weiteres klassisches Beispiel: die Tatsache, daß sich die Kirche seit dem vierten Jahrhundert, seit Beginn ihrer bis heute andauernden konstantinischen Epoche mit allen möglichen Diktaturen rechter wie linker Provenienz verbündet, wenn es ihr Vorteile verschafft und ihrem universalen Missionswillen entspricht. Zwar konnte sich Kirche – wie übrigens jedes System – in ihrer Geschichte unter besonderen, ihr Vorteile verheißenden Umständen sogar ein paarmal mit revolutionären Bewegungen verbinden. Dabei mobilisierte sie jedoch stets nur ihr Potential an Anpassungsenergien mit dem Ziel der Erhaltung bzw. Erweiterung der eigenen Macht unter revolutionär veränderten Bedingungen, niemals übernimmt sie echt emanzipatorische Führungsrollen. Vom sozialistischen Experiment Allendes in Chile fiel sie sofort in dem Augenblick ab, als sie merkte, daß die Macht dieses Politikers abzubröckeln begann.

Die Geschichte der Herrschaftssysteme lehrt uns auch, daß organisierte Macht sich noch nie von selbst, ohne gewaltigen Gegendruck von außen aufgegeben hat. Diese Systeme folgen sklavisch dem Gesetz der Persistenz, Permanenz und Resistenz gegen jeden Druck von außen und von innen und behaupten sich so lange, wie dieser Druck das Potential ihrer repressiven Energien nicht überschreitet. Alle Ämter, Funktionen, Positionen innerhalb dieser Systeme dienen mit der Zeit nur noch dazu, alle freiheitlichen Regungen, alle emanzipatorischen Initiativen, alle Kreativität ihrer Mitglieder mit den Mitteln der Überwachung, der Kontrolle, der Reglementierung, des "Mobbings" und eines geradezu "hierokratischen Zwanges" (Max Weber) im Sinne der monopolisierten, feierlich aufgeplusterten Spendung oder Versagung von "Heilsgütern" in Form von Ernennungen, Begünstigungen, finanziellen Belohnungen, Titeln etc. durch den "Generalstab" des Systems zu unterbinden.

Angesichts dieser ehernen, festgefügten Machtstrukturen von Systemen scheint das Individuum keinerlei Chancen zu haben. Nur mit einem Übermaß an geistiger Kraft, Charakterstärke und Zivilcourage kann hier gegengesteuert und ein anderer, human-ethischer Kurs eingeschlagen werden. Aber auch dafür gibt es ein klassisches historisches Beispiel: den großen Inder Mahatma Gandhi, der sein Land vom britischen Kolonialsystem befreite. Gandhi steht für die Macht der Ohnmacht, für die Effektivität der Gewaltlosigkeit. Ich denke da auch an sein großes Wort, dem er in seinem und durch sein Leben und Leiden Realität verschafft hat: "Politik ohne Religion ist eine Menschenfalle". Allerdings faßte der Hindu Gandhi, der bekanntlich auch die Klasse der Kastenlosen in Indien – allerdings vergeblich – zu befreien versuchte, Religion anders auf als wir, die wir meistens Religion mit Konfession, Christentum, Kirchgang und ähnlichem assoziieren. Für ihn ist Religion Überzeugung von der Kraft des Geistes und stete Realisierung dieser Geisteskraft. Diese Kraft des Geistes, die größer ist als alle verbrecherische Gewalt, versuchte er durch seine Lehre, sein Leben und sein Leiden in die große Weltpolitik einzubringen. Daher war er überzeugt: "Die Religion der Gewaltlosigkeit gilt nicht nur für die rishis und die Heiligen. Sie gilt auch für das Volk. Gewaltlosigkeit ist das Gesetz der menschlichen Rasse, so wie Gewalt das Gesetz der wilden Tiere ist. Im wilden Tier liegt der Geist in tiefem Schlaf, es kennt kein anderes Gesetz, als das der rohen Kraft. Die Menschenwürde fordert Gehorsam gegenüber einem höheren Gesetz – dem der Geisteskraft. Daher wage ich, Indien das uralte Gesetz der Selbstopferung aufzuerlegen. Denn satyagraha und was daraus folgt, keine Zusammenarbeit und ziviler Ungehorsam, sind nur neue Namen für das Gesetz des Leidens. Die rishis, die, umgeben von Gewalt, das Gesetz der Gewaltlosigkeit entdeckten, waren weit genialer als Newton. Und sie waren auch größere Feldherrn als Wellington. Wenngleich geübt im Gebrauch von Waffen, erkannten sie deren Nutzlosigkeit und lehrten eine erschöpfte Welt, daß ihr Heil nicht in der Gewalt liegt, sondern in der Gewaltlosigkeit. Gewaltlosigkeit im dynamischen Stadium bedeutet bewußt auf sich genommenes Leiden." Gandhi kann aufgrund eigener Erfahrung sagen, daß die Kraft des Geistes unermeßlich ist, "unendlich wunderbarer und subtiler als die materiellen Kräfte der Natur, zum Beispiel die Elektrizität", "unendlich mächtiger als die Kraft sämtlicher Waffen, die Menschengeist ersonnen hat."

Wir erfahren jeden Tag aus der Presse, wie oft in der Politik die Unwahrheit gesagt wird. Gandhi aber hielt hartnäckig daran fest, daß der Geist des Menschen in allen Bereichen der Wahrheit furchtlos ins Auge schauen müsse, daß sich auch die Politik der Norm der Wahrhaftigkeit unterzuordnen habe. Die Ehrfurcht vor dem "universalen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit", sagt Gandhi, "hat mich in die Politik geführt; und ich kann ohne Zögern und doch in aller Demut sagen, daß ein Mensch, der behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was Religion bedeutet."

Aber Gandhi weiß natürlich und hat es am eigenen Leib zu spüren bekommen, daß mit der Entscheidung für Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Weg des Leidens und des Opfers beschritten ist. Denn die Politik der Gewalt arbeitet mit Lüge, Verdrehung, Korruption und Erpressung und verfolgt diejenigen, die in der Politik dem Geist der Wahrheit und Wahrhaftigkeit folgen wollen. Daher "stehen die Regierungsapparate zwischen den Völkern und trennen die Herzen der Menschen voneinander." Diese von der Politik der Gewalt errichteten Trennwände können Einzelne und ganze Völker nur durch »satyagraha«, durch Seelenstärke, niederreißen. Es geht also um »satya«, die Wahrheit, und um »agraha«, die Kraft des Festhaltens an ihr, auch im Angesicht von Leid und Schmerz. "Der wahre Menschengeist" wird Gandhi zufolge nur durch satyagraha freigelegt. Ohne Bereitschaft zum Leid und zum Opfer ist es unmöglich, "das Gesetz unseres Seins bis ins Letzte zu erfüllen."

Gandhi ist das leuchtende Ideal politischer Zivilcourage und des mutigen Widerstandes gegen Systemblindheit und -enge. Nach seinen eigenen Worten hat er versucht, Politik zu verbinden mit dem "unverrückbaren Etwas im Menschen, das keine Anstrengungen zu groß findet, um zur vollen Entfaltung zu gelangen – das die Seele nicht ruhen läßt, bis sie zu sich gefunden hat."

Ein gar nicht religiöser Geist (im christlich-abendländischen Sinn), aber Gandhi geistesverwandt, der atheistische Philosoph Bertrand Russell, gerühmt als einer der größten Logiker des 20. Jahrhunderts (vor allem wegen seiner zusammen mit Whitehead herausgegebenen "Principia mathematica") hat einem Aspekt und einer fundamentalen Voraussetzung der Zivilcourage gegen das blinde Walten der Macht glänzenden Ausdruck verliehen. Mit seinen Ausführungen und dem Appell, in seine Fußstapfen zu treten und dem Verlust des Denkens in unserer immer informierteren und gleichzeitig geistig immer hohleren Gesellschaft entgegenzuwirken, schließe ich diesen Beitrag: "Die Menschen", so Russell, "haben vor dem Denken mehr Angst als vor irgend etwas sonst auf der Welt – mehr als vor dem Ruin, ja selbst mehr als vor dem Tod. Das Denken ist umstürzlerisch und revolutionär, destruktiv und schrecklich; das Denken kennt keine Gnade gegenüber Privilegien, fest begründeten Institutionen und bequemen Gewohnheiten; das Denken ist anarchisch und gesetzlos, gleichgültig der Autorität gegenüber und rücksichtslos gegen die erprobte Weisheit von Jahrhunderten. Das Denken blickt hinab in die Tiefe der Hölle und fürchtet sich nicht. Es sieht den Menschen, ein schwaches Fleckchen umgeben von unergründlichen Tiefen des Schweigens; aber es hält sich stolz aufrecht, so ungerührt, als wäre es Herr des Universums. Das Denken ist groß und behende und frei; es ist das Licht der Welt und der höchste Ruhm des Menschen". Deshalb sagen die Herrscher, die Priester, die Mächtigen und Reichen: "Fort mit dem Denken! Zurück in den Schattenbereich des Vorurteils, damit Besitz, Moral und Krieg nicht in Gefahr geraten. Besser bleiben die Menschen dumm, faul und gewalttätig, als daß sie frei denken lernen. Denn wenn ihre Gedanken frei wären, dann könnten sie am Ende anders denken als wir. Und diese Katastrophe muß unter allen Umständen verhindert werden! So argumentieren die Gegner des Denkens in den unbewußten Tiefen ihrer Seele. Und so handeln sie in ihren Kirchen, in ihren Schulen und auf ihren Universitäten".



Literatur zu diesem Thema und den zitierten Stellen:

R. Attenborough (Hrsg.), Mahatma Gandhi, München 81987.
B. Russell, Probleme der Philosophie, Frankfurt/M. 21967.

Und vom Verfasser dieses Beitrags die Bücher:
Religion – Möglichkeit oder Grenze der Freiheit?, Köln 1977.
Ökologische Religion. Ein neues Verständnis der Natur, München 21990.
Die Vernunft des Universums, München 1988.
Die Kunst zu sein. Philosophie, Ethik und Ästhetik sinnerfüllten Lebens, Düsseldorf 1989. Zweite Auflage: Essen 1998
Mystik und Vernunft, Freiburg 1991.
Denkverbot, München 1992.
Das Gericht der Philosophen, Essen 1997.



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