Prof. Dr. Hubertus Mynarek

Humanismus und Buddhismus

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, 2/2004, S. 220-223


Vor kurzem erklärte der oberste Glaubenswächter im Vatikan, Kardinal Ratzinger, etwas spitz, der Buddhismus sei doch kaum mehr als "eine Art spirituelle Selbstbefriedigung". Und sein unmittelbarer Vorgesetzter, Papst Johannes Paul II., blies ins gleiche Horn, als er in seinem Buch "Die Schwelle der Hoffnung überschreiten" behauptete, daß selbst die afrikanischen und asiatischen Animisten mit ihrem Ahnenkult dem Christentum näher stünden als die großen Religionen des Fernen Ostens, also als der Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus und Taoismus.

Woher rührt diese unterschwellige Feindseligkeit her, die in Aussagen führender Kirchenmänner über den Buddhismus immer wieder zum Vorschein kommt, obwohl diese Leute ansonsten und im allgemeinen die Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs heute so betonen? Diese Feindseligkeit kommt wohl im letzten und eigentlichen aus der Angst, dem sich in Frage Gestelltfühlen durch eine Religion, die ohne Gott auskommt, durch eine – so paradox das klingt – atheistische Religiosität. Denn der Buddhismus ist der frühe und große historische, genauer: religionsgeschichtliche Beweis dafür, daß es einen Humanismus und eine autonome Ethik ohne Gott, ohne Berufung auf und Stützung durch ein oberstes gesetzgebendes metaphysisches Prinzip geben kann. Gott und Götter, Geister und Dämonen gehören ja dem ursprünglichen Buddhismus zufolge zur »Maya«, zur Welt des Scheins und der Illusion. Etwa zweieinhalb Jahrtausende vor Ludwig Feuerbach hat so der Buddhismus dessen Illusions- und Projektionstheorie bereits vorweggenommen.

Wo Kirchenfürsten wie die erzkonservativen deutschen Bischöfe Dyba und Meisner, aber selbst sogenannte progressiv-liberale Theologen wie Küng und Drewermann noch heute behaupten, nur das Absolute könne absolut binden, nur der Glaube an den einen wahren Gott sei imstande, den Menschen jederzeit zum moralisch richtigen Handeln zu verpflichten, "das Humanum müsse im Divinum (= Göttlichen) begründet sein" (Küng), zeigen Buddha und seine frühen Anhänger lange vor Anbruch des Christentums, wie humane Kultur, Ethik und Politik ohne alle metaphysischen Stützpfeiler realisiert und zur Blüte gebracht werden können. Während das Christentum trotz seiner ständigen Berufung auf Gott ungezählte Eroberungs- und Missionskriege, regelrechte Abschlachtungen von "Hexen", Ketzern, Andersgläubigen, Juden, Atheisten usw. veranstaltete, hat der Buddhismus der Idee des Friedens mit Mitmenschen und Völkern, aber auch mit der im christlichen Kulturbereich so grausam mißhandelten Tierwelt nicht bloß in der persönlichen Gestaltung des Individuums, sondern auch in geschichtlich bedeutsamen politischen Systemen einen praktischen, teilweise sogar sehr effizienten Ausdruck verliehen.

Man kann direkt von einer empirischen Kausalpsychologie und einer frühesten Psychoanalyse des Friedens und des Krieges in den buddhistischen Lehrsystemen sprechen, da das grundlegende Hindernis der Erreichung des tiefsten Friedens (im Nirvana), nämlich die in den verschiedenen buddhistischen Schulen scharfsinnig analysierte Gier (= tanha) nicht bloß die individuelle Heilung des Individuums, sondern auch den Frieden zwischen ganzen Völkergruppen und Staaten unmöglich macht. Denn diese Gier, der Egoismus in all seinen Formen, der auch den Hang zu Feindseligkeit, Streit und Haß umfaßt, setzt nach buddhistischer Auffassung erst eigentlich diese unsere Erscheinungswelt, die Welt des Scheins, der Täuschung (maya), des Nichtwissens und Leidens. Der Buddhismus hat eine radikale Tendenz zur Aufhebung der Schranken zwischen den Menschen verschiedener Gruppen, Nationen und Rassen. Deshalb dehnt er sein Verbot des Tötens, seine nichts vernichten wollende Ehrfurcht auch auf die weniger individuierte Lebensspäre unterhalb der menschlichen Sphäre aus. Eine allem, was da west und lebt, zugewandte metta- oder mahamaitri-Gesinnung, d. h. der Geist einer großen, grenzenlosen Liebe für alle Welt, wird vom Buddhismus als eigentliche Gegenhaltung zur egoistischen, die Welt als Schein aus sich heraus spinnenden Lebensgier gefordert. Von den fünf »Weltfesseln«, die die Gier, der egoistische Lebensdurst, dem Menschen anlegt, ist für Buddha die schlimmste, weil "die Wurzel des Bösen", der "Haß – der Hang zur Feindseligkeit". Daher übertrifft auch die metta/mahamaitri-Gesinnung, der "grenzenlose Geist der Liebe für alle Welt – ohne Haß, ohne Feindschaft", alle anderen, der "Geistesbefreiung" dienenden Tugenden. Dementsprechend verlangt Buddha als eine der ersten sittlichen Disziplinen von seinen Anhängern, sich jeglicher "Gewalttätigkeit gegenüber allen Wesen", die unabhängig davon, ob sie "Pflanze, Tier oder Mensch sind, vor der Gewalt zittern", jeglicher "Verletzung" und "Tötung lebender Wesen" zu enthalten. Das "Erbarmen für alle Lebewesen" soll dazu führen, daß man "keinen Stock, keine Waffe anrührt", daß man "voll Scheu vor dem Wehetun" ist, so daß schließlich alle "in Glück und Frieden leben können".

Daß diese Friedensideen des Buddha keine konsequenzlose Theorie geblieben sind, sondern selbst die politische Tatkraft von Staatsmännern zu beflügeln vermochten, beweist die Geschichte. Zu nennen ist hier vor allem die Friedensherrschaft des Kaisers Ashoka (273 – 232 v. Chr.), des größten Staatsmannes der altindischen Geschichte. Aus seinen Felsenedikten geht hervor, daß er zunächst eine durchaus macchiavellistisch geprägte Eroberungspolitik betrieb. Nach der Bekehrung zum Buddhismus tut er als dessen Laienanhänger alles, um das Hauptanliegen buddhistischer Ethik, das »Nicht-Gewalt-Antun«, »Nicht-Verletzen«, »Nicht-Töten«, das »grenzlose Wohlwollen für alle Wesen« in seiner Regierungspolitik Wirklichkeit werden zu lassen. Er bemüht sich erfolgreich um eine konsequente Friedenspolitik nach innen und nach außen, schwört der Dämonie der Macht und jeglichem Despotismus ab, betätigt sich gegenüber seinem eigenen Volk vorbildlich als Landesvater, indem er zahlreiche soziokulturelle Einrichtungen schafft, den Nachbarvölkern gegenüber als Friedenspromotor, indem er "Grenzwürdenträger" einsetzt, die die Aufgabe haben, die Politiker der angrenzenden Staaten von der Sinnhaftigkeit und dem Nutzen einer auf gegenseitiger Liebe und Achtung gegründeten internationalen Solidarität, "einer einträchtigen Staatengemeinschaft" zu überzeugen.

Ähnlich positive Friedensbemühungen wie die Ashokas begegnen uns bei dem vom Buddhismus beeinflußten Kushan-König Kanishka, dem bedeutendsten Herrscher im Indien der Jahrhunderte um Christi Geburt, und bei König Harsha (650 n. Chr.). Aus neuerer Zeit ist der gewaltlose Einsatz des großen Mahatma Gandhi für den Frieden seines Volkes allen genügend bekannt. Der Einfluß des Buddhismus auf den »Feldzug ohne Schwert« des Hindu Gandhi ist nicht zu übersehen. Lautet doch auch das Leitmotiv seiner politischen Ethik: »Ahimsa« (Gewaltlosigkeit, Sanftmut), womit er sich dem "Gesetz der Bestie", in der "der Geist schlafend liegt", entgegenstellt. Diese Gewaltlosigkeit ist ermöglicht durch "die Kraft der stärkeren Seelen", die Kraft der mitleidenden Liebe. Diese wird sich nach Gandhi letztlich als "der Gewalt unendlich überlegen" erweisen. Für ihn ist Religion, wie er sie versteht und lebt, nicht etwa die Anbetung eines überweltlichen und außerweltlichen Gottes, sondern die Identifikation mit dem "unverrückbaren Etwas im Menschen, das keine Anstrengungen zu groß findet, um zur vollen Entfaltung zu gelangen – das die Seele nicht ruhen läßt, bis sie zu sich gefunden hat".

Der Humanismus, den wir im Buddhismus vor uns haben, braucht auch für seine ethischen Grundregeln, nämlich den sog. "Edlen Achtfachen Pfad", keinen göttlichen Urquell, aus dem er sie herleiten müßte. Diese Regeln ("rechte Anschauung, rechte Absicht, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Überdenken, rechtes Sichversenken") sind etwas, das jeder Mensch auf der Basis rein rationaler Überlegung entdecken und als Norm für sich selbst und die Gesellschaft aufstellen kann. Nichts Mythisches oder Mystisches ist darin enthalten, obwohl diese ethischen Regeln zugleich auch das günstige Fundament einer rationalen Spiritualität und Verinnerlichung bilden können.

Man muß demnach den Humanismus Buddhas nicht bloß als ethischen, sondern auch als rein aufklärerisch-rationalen Humanismus bezeichnen. Heilige Überlieferungen, Dogmen und Tradition, alteingefleischte Gewohnheiten und Vorurteile, die Autorität von Priestern und die Zeugnisse ehrwürdiger, weiser Männer sind ihm ein Greuel. Nur die eigene Erfahrung und die autonome Vernunft zählen. Deshalb sagt Buddha im »Anguttara Nikayo«: "Deine Zweifel sind begründet, Sohn des Kesa. Höre meine Anweisung: Glaube nichts auf bloßes Hörensagen hin; glaube nicht an Überlieferungen, weil sie alt und durch viele Generationen bis auf uns gekommen sind; glaube nichts auf Grund von Gerüchten oder weil die Leute viel davon reden; glaube nicht, bloß weil man dir das geschriebene Zeugnis irgend eines alten Weisen vorlegt; glaube nie etwas, weil Mutmaßungen dafür sprechen oder weil langjährige Gewohnheit dich verleitet, es für wahr zu halten, glaube nichts auf die bloße Autorität deiner Lehrer und Geistlichen hin. Was nach eigener Erfahrung und Untersuchung mit deiner Vernunft übereinstimmt und zu deinem eigenen Wohle und Heile wie zu dem aller anderen Wesen dient, das nimm als Wahrheit an und lebe danach".

Deshalb soll der Buddhist auch rein rational – wir würden heute sagen: psychologisch, psychoanalytisch und philosophisch – über das Wesen unserer (bedingten) Existenz, das Wesen der Kausalität (also der Ursachen unserer Bedingtheit) und über den Weg zur »Freiheit von diesen Bedingtheiten in vollkommener Existenz» im Rahmen der sog. "Vier Edlen Wahrheiten" nachdenken. Keine Offenbarung leitet ihn dabei, allein die eigene, allerdings auch meditierende, sich ständig vertiefende und in den Kern alles Seienden versenkende Vernunft führt zum Licht, zur Intuition, zur Erleuchtung, zum Wissen über unseren Zustand und den Zustand der Welt und zum tiefen inneren Frieden der Unabhängigkeit von Bedingtheiten und Schicksalsschlägen.

Auch moderne (atheistische) Humanisten können heute noch einiges von den praktischen Übungen des Buddhismus, insbesondere des Zen-Buddhismus lernen, etwa die Art, wie man auch ganz gewöhnliche Arbeiten gleichzeitig mit Gelassenheit und höchster Konzentration verrichtet und sie damit bedeutsamer macht; wie man sich auf nichts anderes als auf sein eigenes Atmen konzentriert, das einen von einem Zustand zum anderen trägt und Ausdruck der universalen, uns alle durchpulsenden Lebensenergie ist; wie man dabei stufenweise zum Studium des eigenen Ich in der Abfolge seiner inneren Druckzustände gelangen kann und wie man diese Druckzustände auflöst und damit auch das Ego selbst in seiner Konsum-, Genuß- und Triebgebundenheit abgebaut wird; wie dadurch ein "Vorgeschmack des Nirvana", nämlich jene befreiende Leere entsteht, die gleichbedeutend mit dem Aussetzen unserer gewohnten oberflächlichen Bewußtseinstätigkeiten ist und eine Stille, einen inneren Frieden von höchster Qualität herbeiführt, der den besten Nährboden für alle kreativen Einsichten, für alle "genialen" Intuitionen darstellt: Der auf diese Weise Übende hat sich zu sich selber gebracht und die tiefsten Schichten seines Wesens durch eigene Anstrengung und Erfahrung hervorgeholt (ausführlicher dazu: Mynarek, Religiös ohne Gott?, München 1989, Schlußkapitel; ders., Die Vernunft des Universums. Lebensgesetze von Kosmos und Psyche, Essen 22003, Verlag Die Blaue Eule).

Man kann abschließend sagen, daß die voraussetzungslose, keine metaphysischen Anleihen machende, in dem Sinne atheistische Spiritualität des Buddhismus auch zur geistigen Vertiefung und Bereicherung jedes heutigen Humanismus wesentlich beitragen kann.



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