Dr. Michael Schmidt-Salomon (Trier)

"Wer die Welt erhellt…"

Karlheinz Deschners Leben, Werk und Wirkung – eine Skizze

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, Sonderheft 9/2004 für Karlheinz Deschner, S. 27-47

In Michael Endes Kinderbuch "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" entdecken die beiden Titelhelden den Scheinriesen Herrn Tur Tur – einen Mann, der, wenn man ihm gegenübersteht, völlig normale Ausmaße zu haben scheint, der aber, sobald man ihn aus der Ferne betrachtet, unermesslich groß wirkt. So phantastisch die Geschichte des Herrn Tur Tur klingt, in der wundersamen Welt des Feuilleton sind durchaus ähnliche Phänomene zu beobachten: Denn auch die "Größe" von Wissenschaftlern, Malern, Komponisten oder Schriftstellern scheint mit der räumlichen und vor allem zeitlichen Distanz zu wachsen. Einen Zeitgenossen, gar einen, den man persönlich kennt, in einem Atemzug mit den "großen Dichtern und Denkern" zu nennen, ziemt sich nicht. Nur ein toter Autor ist ein großer Autor. Insofern mag dieser Aufsatz, der einen Lebenden, nämlich Karlheinz Deschner, unverhohlen an die Seite der wichtigsten Aufklärer und Schriftsteller der Vergangenheit stellt, ungebührlich erscheinen. Ignoriert man jedoch die dimensionalen Verschiebungen, die durch das Phänomen des kulturellen Scheinriesentums ("Turturismus") entstehen, ist es keineswegs mehr so abwegig, das Werk Karlheinz Deschners als gleichrangig etwa mit den Werken Nietzsches, Schopenhauers oder Heines zu betrachten.

Der Vergleich Deschner-Nietzsche steht hier nicht zufällig an prominenter Stelle. Dass Deschner der "Nietzsche unserer Zeit" sei, war die erste Assoziation, die in mir aufstieg, als ich den Autor Anfang der neunziger Jahre das erste Mal "leibhaftig" erlebte (ich vermute, mancher Theologiestudent glaubte damals, den "Leibhaftigen" zu erleben). Bis heute ist mir Deschners Vortrag, den ich gebannt aus der letzten Reihe der restlos überfüllten Trierer Tuchfabrik verfolgen durfte, in lebhafter Erinnerung geblieben. Ich war tief beeindruckt – nicht nur von den erschütternden Fakten, die dieser zerbrechlich wirkende Mann aus der Versenkung des kollektiv Verdrängten ans Tageslicht förderte, sondern vor allem auch von der Brillanz seiner Formulierungen, der Schärfe seiner Diktion, nicht zuletzt auch von der kompromisslosen Klarheit, mit der er auf die mitunter feindseligen Angriffe aus dem Publikum reagierte. Selten zuvor und auch selten danach konnte ich die Streitkultur der Aufklärung in derart konzentrierter Form erleben. Eine prägende Erfahrung, die sicherlich dazu beigetragen hat, dass auch ich mich in der Folgezeit mehr und mehr auf dem Gebiet der Religions- und Ideologiekritik engagierte.

Während ich Deschner Anfang der Neunziger nur aus der Ferne schätzen konnte und insofern gefährdet war, in meinem Urteilen einem "Turturismus" zu unterliegen, hatte ich in den letzten Monaten die Gelegenheit, Autor und Werk aus der Nähe zu betrachten.(1) Zugegeben: Auch durch Nähe können Urteilstrübungen entstehen (durch die Überhöhung des Anderen kann man schließlich auch sich selber aufwerten), allerdings dürfte dieses gut dokumentierte Phänomen im vorliegenden Fall keine große Rolle spielen.(2) Dennoch muss ich einräumen, dass meine ohnehin hohe Wertschätzung des Deschnerschen Oeuvres in den letzten Monaten noch zugenommen hat. Dies ist nur indirekt auf die größere Nähe, auf das "Menschlich-Allzumenschliche" zurückzuführen, sondern vielmehr darauf, dass mir erst durch die erneute intensive Auseinandersetzung mit dem Autor die ungeheure Bandbreite und Stringenz seines Lebenswerkes bewusst wurde. Ich darf gestehen, dass auch ich Deschner – wie viele andere – lange Zeit nur als Kirchenkritiker wahrgenommen habe. Selbstverständlich wird niemand bestreiten wollen, dass Deschner der "bedeutendste Kirchenkritiker des 20. Jahrhunderts" (Stegmüller) ist, allerdings sollte man aufgrund dieser Etikettierung nicht übersehen, dass es in seinem Werk weit mehr noch wahrzunehmen gilt als Kirchen- und Religionskritik.

"Nach meinem Eintritt in die Welt war ich ein ganzes Jahr sprachlos": Der Lebensweg eines Aufklärers

In der Rede, die Deschner auf dem Festakt zu seinem 80. Geburtstag in Haßfurt hielt, machte er deutlich, dass all unsere Leistungen, all unsere Schöpfungen, nur "Dotationen von fernher" sind, zwangsläufiger Ausdruck unserer spezifischen Lebenserfahrungen, die ihrerseits durch ein kaum zu entwirrendes Knäuel von interagierenden Determinanten bestimmt werden. Auch in seinen literaturkritischen Schriften betonte er immer wieder, wie sehr sich das Erlebte im Geschriebenen widerspiegelt. Insofern bietet es sich an, sich dem Deschnerschen Werk zunächst einmal über die Lebensgeschichte des Autors zu nähern.

Über den Menschen Karlheinz Deschner ist – zumindest auf den ersten Blick – in der Öffentlichkeit verhältnismäßig wenig bekannt geworden. Hermann Gieselbusch, dem langjährigen Lektor von Karlheinz Deschner bei Rowohlt, verdanken wir immerhin einige Mosaikstückchen zum Deschnerschen Lebenslauf (zu finden in den kostenlosen, aber doch so ungemein wertvollen Begleitheftchen, die regelmäßig zum Erscheinen eines neuen Bandes der "Kriminalgeschichte des Christentums" herausgebracht wurden). Eine umfassende Biographie Deschners steht bislang noch aus.

Die wichtigsten Daten des Lebenslaufs sind schnell erzählt: Karl Heinrich Leopold Deschner wurde am 23. Mai 1924 als ältestes von drei Kindern in Bamberg geboren. Nach der Grundschule in Trossenfurt besuchte Deschner das Franziskanerseminar Dettelbach am Main, danach das Alte, Neue und Deutsche Gymnasium in Bamberg. Wie seine ganze Klasse meldete er sich direkt nach dem Abitur 1942 als Kriegsfreiwilliger und wurde mehrmals verwundet. Die Erfahrungen, die er in dieser Zeit des Gemetzels machen musste, prägten seinen Blick auf die Welt und auch sein Werk in entscheidendem Maße.

Nach dem Krieg, im Anschluss an ein kurzes Intermezzo als Student der Forstwissenschaften, hörte Deschner 1946/47 an der Philosophisch-theologischen Hochschule in Bamberg juristische, theologische, philosophische und psychologische Vorlesungen. Von 1947 bis 1951 studierte er an der Universität Würzburg Neue deutsche Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte, wo er 1951 mit einer für Deschners Lebenshaltung durchaus charakteristischen Arbeit über "Lenaus metaphysische Verzweiflung und ihr lyrischer Ausdruck" zum Dr. phil. promovierte. Der im selben Jahr geschlossenen Ehe mit Elfi Tuch entstammen die Kinder Katja (1951), Bärbel (1958) und Thomas (1959 bis 1984).

Da Elfi Tuch 1951 bereits eine Ehe hinter sich hatte, stieß die Verbindung mit Karlheinz Deschner nicht gerade auf Wohlgefallen auf Seiten der Heiligen Katholischen Kirche. Nach mehreren vergeblichen Verwarnungen (die machtbewussten fränkischen Vertreter der christlichen Liebesreligion verlangten von den frisch Vermählten allen Ernstes, ihre gerade vollzogene Verbindung wieder aufzulösen!) wurden Karlheinz und Elfi Deschner offiziell von allen Sakramenten ausgeschlossen.(3) So traf Karlheinz Deschner der Kirchenbann – kurioserweise noch bevor er überhaupt ein einziges ketzerisches Wort über das Christentum veröffentlicht hatte! Was dieser Kirchenbann, der Versuch, durch soziale Ächtung die Sünder zu bußfertigem Verhalten zu zwingen, im Fränkischen der 50er Jahre für das Paar, die Kinder und auch die Ursprungsfamilien bedeutet haben muss, kann man sich heute kaum noch ausmalen. Ein Schock vor allem für Margarete Deschner, die geliebte, zum Katholizismus konvertierte Mutter, die am 20. Januar 1952 vor versammelter Gemeinde die ihren Sohn betreffende "Oberhirtliche Strafsentenz" über sich ergehen lassen musste.

Dass diese Erfahrung nicht dazu beitrug, Deschners Herz für die Amtskirche zu erwärmen, ist verständlich. Dennoch wäre es verkehrt, die Kirchenbann-Episode im Sinne eines "umgekehrten Damaskuserlebnisses" zu deuten. Es bedurfte 1952 keiner "Oberhirtlichen Strafsentenzen" mehr, um Deschner von einem Paulus – der er im übrigen nie war – in einen Saulus zu verwandeln. Durch die Lektüre vor allem der Schriften Kants, Schopenhauers und Nietzsches hatte er sich aus den Fesseln christlichen Denkens längst schon befreit.

"Lektüre" ist ohnehin ein gutes Stichwort für diese Zeit. Deschner fraß sich damals regelrecht durch die philosophische und belletristische Literatur hindurch. Darauf aufbauend avancierte er in den frühen Fünfzigern zum viel beschäftigten (freilich trotzdem nahe dem Existenzminimum lebenden) Vortragsreisenden in Sachen Literatur, der dem Publikum auf unzähligen Veranstaltungen die Werke anderer, meist unterschätzter deutsch- und englischsprachiger Autoren näher brachte.

Als eigenständiger Schriftsteller trat Deschner erst relativ spät ins Licht der Öffentlichkeit, mit 32 Jahren. Von starken Selbstzweifeln geplagt, hatte er zuvor alles verworfen, was er mühsam zu Papier gebracht hatte. Mit dem 1956 erschienenen Roman "Die Nacht steht um mein Haus", entstanden in nur einer Woche, entlud sich die ins schier Unerträgliche gewachsene kreative Spannung mit ungeheurer Wucht. Es hat den Anschein, als sei bei Deschner durch die Veröffentlichung des Romans "der Knoten geplatzt". Im Jahr darauf, 1957, fungierte Deschner nicht nur als Herausgeber des Buchs "Was halten Sie vom Christentum?", sondern publizierte zudem seine literaturkritische Streitschrift "Kitsch, Konvention und Kunst", die durch heftige Diskussionen in Presse und Rundfunk ungewöhnliches Aufsehen erregte. 1958 erschien sein zweiter Roman "Florenz ohne Sonne" und 1962 das Werk, mit dem Deschner erstmalig als historisch forschender Kirchenkritiker auftrat: "Abermals krähte der Hahn", ein Standardwerk der modernen Kirchenkritik. Auch wenn Deschner in der Folgezeit keineswegs nur religionskritische Bücher veröffentlichte (beispielsweise erschien mit "Talente, Dichter, Dilettanten" eine weitere literarische Streitschrift, mit "Der Moloch" eine kritische Geschichte der USA und mit "Für einen Bissen Fleisch" ein Plädoyer für den Vegetarismus), so wurde der Autor von nun an hauptsächlich als Kirchenkritiker wahrgenommen. Nach jahrelanger Vorarbeit brachte der Rowohlt-Verlag 1986 den ersten Band der auf zehn Bände angelegten "Kriminalgeschichte des Christentums" heraus, dem bis heute (2004) sieben weitere gefolgt sind.

Während Deschner sein schon in quantitativer Hinsicht beeindruckendes Werk (rund 50 Bücher!) auf die Beine stellte, drückten ihn chronische Geldsorgen. Obgleich er das Glück hatte, dass sich einige seiner Werke hervorragend verkauften, vermochte der Autor mit den verbleibenden Tantiemen seine Familie nur notdürftig über Wasser zu halten. Institutionelle Förderung konnte Deschner, der die Drei-D-Taktik des akademischen Aufstiegs ("dienen, dienern und dinieren") nicht einmal ansatzweise beherrschte, nicht in Anspruch nehmen. Die Möglichkeit einer ordentlichen universitären Karriere war ihm, dem kompromisslosen Religionskritiker, ohnehin verbaut.(4) (Gewissermaßen um eine Probe aufs Exempel zu machen, ließ er sich wider besseres Wissen trotzdem einmal dazu überreden, sich auf eine Professorenstelle zu bewerben. Dass das Feedback negativ war, entsprach seinen Erwartungen.)

Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ließ sich trotz des Einsatzes renommierter Professoren wie Hans Albert und Norbert Hoerster erwartungsgemäß nicht dafür gewinnen, die "Kriminalgeschichte des Christentums" zu fördern. Angesichts der "hohen Qualitätsmaßstäbe" der DFG kein Wunder: Im Dritten Reich förderte sie die rassistische Spitzenforschung, seit Kriegsende ist sie (von verhältnismäßig wenigen Ausnahmen abgesehen) redlich darum bemüht, die auch für unsere Universitäten charakteristische "Selektion in Richtung Mittelmäßigkeit" voranzutreiben. Wer heute gefördert werden möchte, sollte sich auf ein Gebiet konzentrieren, das niemanden sonderlich interessiert, und es in einer Sprache angehen, die niemand versteht.(5) Zu beidem fehlte Deschner offensichtlich jegliches Talent. Insofern war die Absage der DFG unter der selbst gewählten Perspektive einer "Qualitätssicherung des Mediokren" zweifellos völlig berechtigt.

Glücklicherweise: Wo Institutionen versagen, springen manchmal Einzelpersonen in die Bresche. So auch im Fall Deschner. Ohne seine vielen Förderer, vor allem Alfred Schwarz und Herbert Steffen, wäre Deschner dazu verdammt gewesen, sich im mühsamen Tagesgeschäft des Vortragsreisenden aufzureiben. Dank dieser Förderung aber kann er heute ohne nennenswerte Störungen an der Vollendung seines großen Werks arbeiten, was Deschner durchaus zu schätzen weiß. Ansonsten gönnt er sich wenig Komfort, er lebt in bescheidenen Verhältnissen, bewohnt noch immer dasselbe Einfamilienhaus, das er mit seiner Familie vor rund 40 Jahren bezogen hat. Viel hat sich dort in dieser Zeit wohl nicht verändert, wenn auch hier und da aus- oder umgebaut wurde, um all die neuen Bücher, Exzerpte und Manuskripte, die sich mit der Zeit ansammeln, beherbergen zu können. Unverzichtbar dürfte für Deschner der kleine, angenehm naturbelassene Garten sein, in dem sich nicht nur die geliebten Haustiere tummeln; auch der Hausherr absolviert hier sein tägliches Fitnesstraining.

Dass Deschner so viel Förderung durch Privatpersonen erfahren hat, ist in der heutigen Zeit ungewöhnlich, aber gewiss kein Zufall. Bei derartig vielen persönlichen Zuschriften (bislang weit über 50.000! Welcher Autor erzielt bei seinen Lesern schon solch überwältigende Resonanz?), ergibt sich dies fast zwangsläufig. Auf jeden Fall können wir feststellen, dass der notorische Einzelgänger Deschner, der Mann, der seit Jahrzehnten von morgens bis abends unzählige einsame Stunden hinter seinem Schreibtisch an der alten manuellen Schreibmaschine verbringt, zu keinem Zeitpunkt wirklich isoliert war. Er fand immer wieder Zuspruch und Anerkennung. Zwar relativ selten in den Medien oder durch öffentliche Gremien, wohl aber von jenen, die ihm persönlich wichtig waren und sind.

Auch auf tatkräftige Unterstützung musste Deschner in seinem unmittelbaren Umfeld nicht verzichten. Zu nennen sind hier in erster Linie seine Frau Elfi, die die Stärke besaß/besitzt, diesem von unbändigem Schaffendrang getriebenen und oftmals böse angefeindeten "Streitschriftsteller" in allen Höhen und Tiefen des Lebens zur Seite zu stehen, seine Schwester Hedy Schaaf (eine unverzichtbare Hilfe bei der Korrespondenz und der Manuskripterstellung) sowie Gabriele Röwer, Deschners wichtigste Vertrauensperson seit über zwanzig Jahren, die aufgrund ihrer großen intellektuellen wie emotionalen Bedeutung für den Schriftsteller selbst in einer kurzen biographischen Skizze wie dieser nicht unerwähnt bleiben darf.

Zugegeben: Mitunter kann es schwierig sein, einem Mann wie Deschner, der ganz besondere Ansprüche an sich und seine Arbeit stellt, zuzuarbeiten. Diese Erfahrung musste u.a. sein Freund und Förderer Herbert Steffen machen, der vor einigen Jahren ein Team von Historikern engagierte, das Deschner bei der Quellensuche unterstützen sollte, um auf diese Weise den Autor zu entlasten und die Fertigstellung der "Kriminalgeschichte des Christentums" zu beschleunigen. So gut diese Überlegung im Ansatz auch war, nach einem Jahr musste das Experiment erfolglos abgebrochen werden, da Deschner mit den Ergebnissen seiner Zuarbeiter nicht zufrieden war. Das Quellenmaterial war für den Perfektionisten, der befürchten muss, dass jede kleine Fehleinschätzung von kirchenfreundlichen Historikern tausendfach ausgebreitet wird(6), einfach nicht solide genug.

Erfreulicherweise wurde Deschner in den letzten Jahren zumindest teilweise jene Anerkennung zuteil, die einem Schriftsteller seines Ranges gebührt: 1988 wurde er - nach Koeppen, Wollschläger, Rühmkorf - mit dem Arno-Schmidt-Preis ausgezeichnet, im Juni 1993 - nach Walter Jens, Dieter Hildebrandt, Gerhard Zwerenz, Robert Jungk - mit dem Alternativen Büchnerpreis und im Juli 1993 - nach Sacharow und Dubček - als erster Deutscher mit dem International Humanist Award. Im Herbst 2001 erhielt Deschner den Erwin-Fischer-Preis des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA), im November 2001 den Ludwig-Feuerbach-Preis des Augsburger Bundes für Geistesfreiheit.

Im Oktober dieses Jahres (2004) nun wird Deschner den Wolfram-von-Eschenbach-Preis erhalten – eine kleine Sensation, ist dies doch die erste Preisvergabe, die von einem offiziellen politischem Gremium, nämlich dem mittelfränkischen Bezirkstag, abgesegnet werden musste. In der AZ vom 31.7.04 kommentierte Dieter Stoll die Wahl Deschners zum Preisträger dahingehend, dass Jury und Bezirkstag entweder ausgesprochen "mutig oder ahnungslos" seien. Immerhin habe man vor Jahren in Nürnberg noch versucht, dem unbequemen Autor wegen "Religionsbeschimpfung" den Prozess zu machen... Möglicherweise aber – und dies wäre ein alternative Erklärung – ist der Prozess der Säkularisierung (der in Deutschland unweigerlich auch mit dem Namen Deschner verbunden ist!) schon so weit vorangeschritten, dass es selbst für konservative Juroren und Politiker in Mittelfranken nicht mehr ehrenrührig ist, Deschner als Preisträger zu akzeptieren. Sollte dem so sein, so wäre die Vergabe des Wolfram-von-Eschenbach-Preises an Karlheinz Deschner gleich in zweifacher Hinsicht eine Bestätigung der Wirkmächtigkeit seines Lebenswerkes.

"Ich habe ein Schafott in mir": Der Mensch im und hinter dem Werk

Die oben geschilderten äußeren Lebensdaten werfen zwar ein erstes Licht auf Deschners Persönlichkeit, dennoch ist das Bild noch recht unscharf. Was treibt diesen Mann dazu an, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr anzuschreiben gegen diesen permanenten Blutstrom, das Elend, gegen die schier unausrottbaren Verdummungs-, und Vernichtungsfeldzüge, die die Geschichte der Menschheit mit niederschmetternder Stringenz als eine Geschichte der Unmenschlichkeit ausweist? Was für ein Mensch steckt hinter dem gewaltigen Werk? Hermann Gieselbusch beschrieb seine erste Begegnung mit dem Autor folgendermaßen: "Deschner erwies sich als ein liebenswürdiger Gastgeber, als interessierter Gesprächspartner, aufmerksamer Zuhörer und ebenso kluger wie warmherziger Melancholiker. Eine unwiderstehliche Mischung."(7) Ich denke, jeder, der Deschner privat kennenlernen konnte, wird diese (selbstverständlich unvollständige, aber doch aussagekräftige) Kurzcharakteristik unterschreiben können. Es besteht eine merkwürdige Spannung zwischen der Kraft der Sprache, die den Schriftsteller Deschner auszeichnet, und der vorsichtigen, zurückgenommenen, aufrichtig bescheidenen Art, mit der die Person Deschner seinen Mitmenschen gegenübertritt. Von den "hasserfüllten Augen des Herrn Deschner"(8) kann nur sprechen, wer dem Menschen Deschner persönlich nie begegnet ist. Wenn man ihm gegenübersitzt, mit ihm spricht, kann man sich nur schwer vorstellen, dass dies jener viel geschmähte "Oberteufel"(9) sein soll, der in aller Unbescheidenheit den Anspruch erhebt, sein "Werk zu einer der größten Anklagen zu machen, die je ein Mensch gegen die Geschichte des Menschen erhoben hat".(10)

Und doch besteht kein Widerspruch zwischen der Aggressivität des Werkes und der Sensibilität, Sanftheit, Melancholie des Autors. Im Gegenteil. Gerade diese Sensibilität, dieses tief erlebte Mitgefühl gegenüber den Unterjochten, Gequälten, Leidenden in der Welt (bei Deschner freilich nicht nur auf die Mitglieder der Spezies Homo sapiens beschränkt) ist das Öl im Feuer der Deschnerschen Rhetorik.

Hier finden wir eine interessante Parallele zu einem Philosophen, der starke Wirkungen auf Deschners Weltbild ausübte: Arthur Schopenhauer. Auch Schopenhauers messerscharfe Polemik speiste sich aus einem tief empfundenen, mitunter auch quälenden Mitgefühl. Würde Deschner eine philosophische Ethik entwerfen, so stünde wohl auch bei ihm das "Prinzip Mitleid" im Zentrum der Überlegungen – kein abstraktes Vernunftsprinzip à la Kant (obgleich Deschner auch durch Kant wichtige Impulse erhielt). Und es ist sicherlich nicht abwegig, zu behaupten, dass Schopenhauers bittere Bemerkung: "Man hat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie: es liegt jedoch bloß darin, daß ich, statt als Aequivalent der Sünden eine künftige Hölle zu fabeln, nachwies, dass […] in der Welt auch schon etwas Höllenartiges sei",(11) im Kern auch das Weltverständnis, besser noch: das Weltempfinden Karlheinz Deschners widerspiegeln dürfte.

Bei allen Gemeinsamkeiten: Schopenhauer und Deschner fanden höchst unterschiedliche Lösungen, um mit ihrer zutiefst pessimistischen Sicht auf die Dinge umzugehen. Während Schopenhauer, beeinflusst von der buddhistischen Philosophie, den Fatalismus wählte, entschied sich Deschner für die Revolte. Eine Entscheidung, die ihm gewiss nicht leicht fiel, spürte er doch schmerzlich die Absurdität, die Vergeblichkeit allen menschlichen Bemühens. Welche Qualen der frühe Deschner, dieser existentiell Verunsicherte, auch an sich selbst unablässig Zweifelnde, durchleiden musste, um zu einer halbwegs tragfähigen Selbstdefinition (etwa im Sinne des Camusschen "Ich revoltiere, also bin ich")(12) zu finden, zeigt sein Debüt als Schriftsteller "Die Nacht steht um mein Haus", ein bitteres, schonungsloses Buch, das den Leser wie eine Lawine überrollt und in dem sich der Autor in aller existentiellen Nacktheit selbst offenbart.

Helmut Uhlig versuchte die Besonderheit dieses "Romans" (eher ein Stück radikaler Autobiographie) so zu fassen: "Deschners Aufzeichnungen liegen jenseits des Selbstmords, so wie Gottfried Benns spätere Gedichte jenseits des Nihilismus liegen… Dieses Buch wird schockieren… Genau besehen, ist es nichts anderes als die Krankengeschichte unserer Zeit."(13)

Diese "Krankengeschichte unserer Zeit", die von der Brutalität des Krieges, des verächtlichen Umgangs des Menschen mit seinen Artgenossen und der Natur erzählte, war zugleich eine Krankengeschichte des Autors, der, von der steten Gefahr des Nervenzusammenbruchs bedroht, sich schreibend selbst therapierte. Offenkundig mit großem Erfolg. Zumindest konnten die Gefühle der Ohnmacht, der Zerrissenheit, der Furcht vor dem eigenen Versagen soweit abgemildert werden, dass Deschner die eigene Schreibhemmung überwinden und in eine wahre Schreibbesessenheit transformieren konnte – mit der Folge, dass aus einem Mann, der dachte, niemals irgendetwas Gescheites, Eigenständiges zu erschaffen, ein Autor wurde, der heute auf ein Werk zurückblicken kann, das sowohl in qualitativer wie auch in quantitativer Hinsicht mehr als beeindruckend ist.

Es wäre spannend zu erfahren, wie "Die Nacht steht um mein Haus" aussehen würde, wenn Deschner das Buch heute, aus der Perspektive des erfolgreichen Schriftstellers, schreiben würde. Sicherlich hätten sich manche Wogen geglättet und doch wage ich zu behaupten, dass der Grundton des Werkes, jene seltsame und für Deschner so typische Mischung aus Melancholie und Revolte, romantischer Naturverbundenheit und beißender Selbstkritik, tiefem Mitgefühl und abgrundtiefer Verachtung auch im Jahre 2004 erhalten bliebe. Dieser Grundton kennzeichnet nämlich nicht nur "Die Nacht steht um mein Haus", sie ist charakteristisch für das gesamte Werk.

Man braucht nur wenige Zeilen zu lesen, um den Autor Deschner identifizieren zu können. Sein Stil ist unverwechselbar, die Handschrift eines Mannes, der sich eben nicht hinter seinen Worten versteckt, sondern stets – in allem, was er schreibt – als Person mit all ihren (enttäuschten) Hoffnungen, Träumen, Ängsten und Abgründen präsent ist. Kurzum: Buffons Wort "Der Stil ist der Mensch selbst" ist von Karlheinz Deschner in eindrucksvoller Weise bestätigt worden. Gleich, ob er sich mit der eigenen Biographie beschäftigt ("Die Nacht steht um mein Haus", "Florenz ohne Sonne"), mit Literaturkritik ("Kitsch, Konvention und Kunst", "Talente, Dichter, Dilettanten"), Gesellschaftskritik ("Der Moloch", "Für einen Bissen Fleisch"), Kirchenkritik ("Abermals krähte der Hahn", "Das Kreuz mit der Kirche", "Kriminalgeschichte des Christentums" etc.), ob er (fränkische) Landschaften in poetischer Weise schildert (u.a. "Dornröschenträume und Stallgeruch") oder seine Erkenntnisse in Form von Aphorismen ("Nur Lebendiges schwimmt gegen den Strom", "Ärgernisse", "Mörder machen Geschichte") verdichtet – Deschner bleibt Deschner. Unverkennbar. In den rund 50 Jahren seines schriftstellerischen Wirkens blieb er sich stets treu.

Es ist dieser subjektive Faktor, diese Allgegenwart des Schriftstellers in seinen Texten, der Deschners Werk so einzigartig macht, ihm seine innere Stringenz verleiht, seine literarische Bedeutung begründet. Gleichzeitig ist es aber auch eben dieser subjektive Faktor, der es nicht nur seinen Gegnern, sondern auch so manchem, scheinbar an "Objektivität" interessiertem (Möchtegern-) Wissenschaftler so leicht macht, Deschners Werk als "unwissenschaftlich" abzuqualifizieren.

"Gleichgültigsein heißt unablässig morden": Über den Zusammenhang von Erkenntnis und Engagement bei Deschner

Die Schriften zum Objektivitätsproblem in der Wissenschaft füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Selbstverständlich wäre es ein hoffnungsloses Unterfangen, die Debatte zu diesem komplexen Thema im Rahmen dieses Aufsatzes auch nur ansatzweise aufrollen zu wollen, einige wenige Hinweise zum Verhältnis von Wissenschaft und subjektivem Werturteil seien aber dennoch erlaubt:

Ganz allgemein gesprochen, können wir ein System von Aussagen dann (und nur dann!) mit dem Etikett "wissenschaftlich" versehen, wenn die darin enthaltenen Aussagen unter permanenten Begründungsdruck stehen, wobei zwischen wahren und falschen Aussagen systematisch unter Zuhilfenahme von Logik und Empirie unterschieden wird. Die angestrebte "intersubjektive Gültigkeit" oder "Objektivität" wissenschaftlicher Aussagen wird im Kern dadurch konstituiert, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gewisse innerwissenschaftliche Normen (nämlich die Notwendigkeit und Gültigkeit logischer und empirischer Testverfahren) als selbstverständliche Prämissen ihrer Arbeit akzeptieren.(14)

Auf der Basis der Akzeptanz dieser wissenschaftlichen Binnennormen ist es selbstverständlich nicht nur möglich, sondern sogar zwingend geboten, Wertungen vorzunehmen. So ist es für wissenschaftlich denkende Menschen beispielsweise evident, dass die Erde weit älter sein muss als jene 4000 Jahre, von denen der biblische Schöpfungsbericht berichtet. Der Schöpfungsbericht muss also – zumindest als Tatsachenbericht – als empirisch falsifiziert gelten, wer ihn dennoch für bare Münze nimmt, kann wissenschaftlich nicht mehr ernst genommen werden, es sei denn, es gelingt ihm wider Erwarten, neue Fakten zu präsentieren, die das gegenwärtige Standardmodell entkräften, bzw. zu beweisen, dass die zur Altersbestimmung u.a. in der Paläontologie herangezogenen empirischen Verfahren grob fehlerhaft sind.

Das heißt: Wertungen an sich sind nicht das Problem in der Wissenschaftstheorie, problematisch sind nur jene Werturteile, die sich nicht allein auf Basis der wissenschaftlichen Binnennormen Logik und Empirie begründen lassen. Aufgrund ihres Gegenstandes begegnen wir solchen Werturteilen verstärkt in den Sozial- und Geisteswissenschaften, auch in der Geschichtswissenschaft. Die Frage beispielsweise, ob Konstantin "der Große" seinen schmückenden Beinamen zu Recht trägt, lässt sich mit Hilfe von Logik und Empirie allein nicht entscheiden. Grundlegend sind hier außerwissenschaftliche Normen, individuelle Wertsetzungen, die von den urteilenden Individuen aufgrund genetischer und memetischer(15) Prägungen vertreten werden.

Da diese außerwissenschaftlichen Normen von der Wissenschaft, die – wie Max Weber feststellte – "niemanden zu lehren [vermag], was er soll, sondern nur, was er kann"(16), im Kern weder begründet noch in Frage gestellt werden können, stehen wir hier vor einem schwerwiegenden Problem: Wie sollen wir in der Wissenschaft mit diesen wissenschaftlich nicht begründbaren Werturteilen umgehen?

Max Weber – hier irren sich jene, die ihn als "Generalstaatsanwalt der Werturteilsfreiheit" gegen Deschner ins Felde führen" – plädierte in diesem Zusammenhang nicht für eine völlige Ausgrenzung außerwissenschaftlicher Werturteile, sondern forderte stattdessen ihre konsequente Offenlegung, verbunden mit einer strikten Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Urteilen. So heißt es bei ihm unmissverständlich: "Die stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements ist eine der zwar noch immer verbreitetsten, aber auch schädlichsten Eigenarten von Arbeiten unseres Faches. Gegen diese Vermischung, nicht etwa gegen das Eintreten für die eigenen Ideale richten sich die vorstehenden Ausführungen. Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche ‚Objektivität’ haben keinerlei innere Verwandtschaft."(17)

Wenden wir dies nun auf das Werk Karlheinz Deschners an: Dass Deschner in seiner wissenschaftstheoretisch hoch interessanten Einleitung in die "Kriminalgeschichte des Christentums" ("Über den Themenkreis, die Methode, das Objektivitätsproblem und die Problematik aller Geschichtsschreibung") sein Erkenntnisinteresse, sein Engagement, seine Parteilichkeit für die Unterdrückten, Unterjochten, Gedemütigten, die Opfer der Geschichte, in aller Deutlichkeit offen legte, widerspricht keineswegs den Anforderungen einer "wissenschaftlich objektiven Darstellung". Im Gegenteil: Gerade die Offenlegung außerwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen ist der Schlüssel zur Ermöglichung wissenschaftlicher Objektivität! In dieser Hinsicht kann man Deschner sogar bescheinigen, dass er die Ansprüche intellektueller Redlichkeit in der Wissenschaft in höherem Maße erfüllt als die überwältigende Mehrheit aler Forscher, die sich leider in der Regel mit wissenschaftstheoretischen Fragestellungen überhaupt nicht beschäftigen und sich deshalb auch keineswegs bemüßigt fühlen, ihre außerwissenschaftlichen Erkenntnisinteressen zu reflektieren, geschweige denn: preiszugeben.

Schön und gut, werden hier Kritiker einwenden, es mag ja sein, dass Deschner sein normatives Erkenntnisinteresse in aller Deutlichkeit offen gelegt hat, doch die von Weber problematisierte "Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements" ist bei ihm nicht nur die Ausnahme, sondern die Regel. Gerade in diesem Punkt zeige sich, dass Deschner nicht Wissenschaft betreibe, sondern Propaganda. Was ist zu diesem Vorwurf zu sagen?

Zunächst einmal ist in der Tat nicht zu bestreiten, dass bei Deschner die Beschreibung von Tatsachen stets gekoppelt ist an eine ethische Bewertung. Deschner kann und will gar nicht anders über Geschichte schreiben als in wertender Weise. Dies gibt er auch freimütig zu: "Ich bekenne mich, wie jeder Gesellschaftskritiker, zur wertenden Geschichtsschreibung. […] Für mich ist ein Unrecht, ein Verbrechen vor 500, 1000, 1500 Jahren genauso lebendig und empörend wie ein Unrecht, ein Verbrechen, das heute geschieht oder erst in 1000, in 5000 Jahren […] wer Geschichte ohne Haß und Gunst betrachtet oder gar beschreibt, gleicht er nicht jenem, der die Opfer eines Großbrands ersticken, verbrennen, zu Tode stürzen sieht und all dies teilnahmslos registriert? Historiker, die sich an ‚reine’ Wertmaßstäbe klammern, an ‚reine’ Wissenschaft, sind unehrlich. Sie betrügen die andern und sich selbst, ja, sie sind, da es kein schlimmeres Verbrechen gibt als Gleichgültigkeit, kriminell. Gleichgültigsein heißt unablässig morden."(18)

Ist dieser deutlich normative Zug der Deschnerschen Geschichtsschreibung ein Grund, die "Wissenschaftlichkeit" des Werks in Abrede zu stellen? Gewiss nicht, denn zum einen ist es so, dass Deschner Tatsachenfeststellungen durch opulente Quellenapparate belegt und dadurch intersubjektiv überprüfbar macht(19); zum anderen muss berücksichtigt werden, dass jede Geschichtsschreibung, die über bloße Materialsammlung, bloße Statistik, hinausgeht, notgedrungen wertende Elemente enthält. Problematischerweise sind diese Wertungen jedoch meist verdeckt (und damit umso gefährlichere Bedrohungen des Objektivitätsprinzips!), während sie bei Deschner ganz offen zu Tage treten.

Deschner selbst führt den Unterschied zwischen einer offenen und einer verdeckten Wertung am Beispiel der historischen Aufarbeitung Karls "des Großen" folgendermaßen aus: "Die Historiker unterstellen einem solchen Mann natürlich nicht Raubkriege größten Stils, Brand, Mord, Totschlag, grauenhafte Versklavung – wer so formuliert, ist von vornherein unseriös. Echte Forscher, aus Fachkreisen, verfügen über ganz andere Beurteilungskriterien, sprechen bei den schlimmsten Raubzügen und Massenabschlachtungen der Geschichte allenfalls von Expansionen, Angriffen, Ausstrahlungen, Schwerpunktverlagerungen, Umlagerungsprozessen, Eingliederungen in den Herrschaftsbereich, Christianisierung und Befriedung von Grenzvölkern."(20)

Zugegeben: Eine derartige Umdeutung blutigster Raubfeldzüge als "Schwerpunktverlagerung" oder "Befriedung von Grenzvölkern" klingt hölzern genug, um von Laien als valider Ausdruck von "Wissenschaftlichkeit" empfunden zu werden, mit "Wertneutralität" oder "wissenschaftlicher Objektivität" hat dies aber ganz gewiss nichts zu tun. Im Gegenteil: Wer so schreibt, betrachtet Geschichte durchaus tendenziös, nämlich parteiisch aus der Perspektive der Herrschenden. In Deschners Worten: "[…] eine Wissenschaft, die nicht wertet, unterstützt, ob sie will oder nicht, den Status quo, sie stützt die Herrschenden und schadet den Beherrschten. Sie ist nur Scheinobjektivismus und praktisch gewöhnlich nichts als Rücksichtnahme auf die eigne Ruhe, Sicherheit, die eigne Karriere."(21)

Dies freilich ist Deschners Sache nicht, ist es nie gewesen. Er bekennt sich offensiv zum "dreifachen Aspekt der Historiographie" (Beumann), dazu, dass sie Geschichte nicht nur erzählt, sondern Geschichte auch ist und vor allem: bewirkt.(22) Eben deshalb muss Geschichtsschreibung nach Deschner nicht nur den Kriterien der Wissenschaft (Logik und Empirie) genügen, sondern zudem von einem ethischen Fundament getragen sein: "Stünde es nicht anders um Menschheit und Geschichte, würden diese von der Geschichtsschreibung – und Schule! – ethisch durchleuchtet und geformt? Würden die Verbrechen der Herrschenden nicht gefeiert, sondern verdammt? Die meisten Historiker aber breiten den Dreck der Vergangenheit aus, als wäre er der Humus für künftige Paradiese."(23)

Gewiss, angesichts solcher Äußerungen sehen sich manche Kritiker bemüßigt, Deschner als einen "Moralisten" zu bezeichnen, als einen Autor, der geschichtliche Gestalten – hierin durchaus dem kritisierten christlichen Denken verwandt – nach einem naiven Gut-Böse-Schema klassifiziere, was dazu führe, dass er die wirkliche Genese geschichtlicher Prozesse nicht verstehen, geschweige denn: angemessen vermitteln könne. Was ist dran an diesem Vorwurf? Ist Deschner tatsächlich ein "unverbesserlicher Moralist", seine "Kriminalgeschichte" ein Musterbeispiel moralisierender Geschichtsschreibung?

Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich vergegenwärtigen, unter welchen Denkvoraussetzungen moralisierende Argumentation überhaupt möglich ist. Auf den Punkt gebracht: Moralisierende Argumentation beruht auf der Unterstellung, dass eine getadelte oder gelobte Person x (ein Mitglied der Spezies Homo sapiens mit genetischer Ausstattung y und Lebenserfahrungen z) zum Zeitpunkt t sich anders (besser oder schlechter) hätte verhalten können, als sie sich de facto verhalten hat. Eine solche Unterstellung, die dem Menschen qua Willensfreiheit die merkwürdige Fähigkeit zuspricht, fundamentale Naturgesetze (nämlich das Ursache-Wirkungsprinzip) zu überschreiten, ist Deschner jedoch völlig fern. Seit vielen Jahren (u.a. beeinflusst durch seine frühe Lektüre Schopenhauers) versteht sich Deschner als Determinist, "als jemand, der überzeugt ist davon, dass wir alle so frei sind wie der Schauspieler im Stück; dass in unserem Leben alles so freiwillig geschieht wie unsere Geburt".(24)

Dieser deterministische (naturalistische) Charakter seines Denkens kommt im gesamten Werk zum Tragen, betont Deschner doch immer wieder die zentrale Bedeutung von Anlage, Erziehung, Sozialisation, frühkindlicher Indoktrination, von Produktionsverhältnissen, zufälligen Lebenserfahrungen usw. Nein, selbst die heiligsten Heiligen fallen nicht vom Himmel, weder bei Deschner noch in der Realität, sie haben ihr Schicksal nicht aus freien Stücken erwählt, sind vielmehr die zwangsläufigen Produkte gänzlich irdischer Gesetzmäßigkeiten. Daran hat Deschner nie Zweifel aufkommen lassen.

Seltsamerweise scheinen selbst ausgewiesene Deschner-Kenner diesen keineswegs unbedeutenden Aspekt seiner Philosophie bislang ignoriert zu haben. Dies zeigten auch die Reaktionen auf Deschners Rede anlässlich des Festakts zu seinem 80. Geburtstag in Haßfurt. Deschners konsequente Auslegung der ethischen Folgen, die aus der Verabschiedung der Willensfreiheitshypothese resultieren (kein Stolz auf eigene Leistungen, keine subjektiven Schuldvorwürfe selbst gegenüber den schlimmsten, schändlichsten Verbrechern und Potentaten!), stieß bei vielen auf großes Unverständnis, erschien so manchem gar als "eklatanter Widerspruch" zu Deschners eigenem Werk.

Was dabei übersehen wurde, ist, dass die Unterstellung von Willensfreiheit zwar eine zwingende Voraussetzung für jegliche Form moralisierender Argumentation ist (X ist ein guter/böser Mensch, weil er sich aus freiem Willen für das Gute/das Böse entschieden hat!), dass ethische Argumentationsweisen auf eine solche Denkvoraussetzung aber problemlos verzichten können. Warum? Weil ein Verbrechen auch dann noch ein Verbrechen ist, wenn der Täter gar nicht die Möglichkeit hatte, anders zu handeln. Eine (naturalistische) ethische Argumentation fragt nach der objektiven Verantwortbarkeit potentieller oder bereits realisierter Taten, nicht nach der subjektiven Verantwortung (Willensfreiheit) der Täter. Wir müssen keineswegs unterstellen, dass Hitler, Stalin, Konstantin der Große oder Papst Innozenz III. sich aus freien Stücken zu ihren Untaten entschlossen haben, um diese ethisch als Verbrechen verurteilen zu können.

Halten wir fest: Legt man die hier nur grob skizzierte Differenzierung zwischen einer naturalistisch-ethischen und einer metaphysisch-moralisierenden Argumentation zugrunde, wird deutlich, dass es höchst problematisch ist, Deschner als Moralisten zu bezeichnen. Er ignoriert keineswegs die genetisch, soziologisch, ökonomisch oder wie auch immer bestimmten Determinanten geschichtlicher Prozesse. Der Wunsch, moralisierende Anklagen zu führen, scheint eher ein Anliegen mancher Leser als ein Anliegen des Autors zu sein. Deschners Bestreben ist es nicht, die Täter der Geschichte als subjektiv Schuldige anzuprangern (sie hätten unter den gegebenen Umständen niemals anders handeln können!), sondern die objektiven Strukturen zu kritisieren, die mit grauenhafter Regelmäßigkeit Leid und Elend in die Welt brachten und auch heute noch bringen. Spätestens seit Deschners Haßfurter Rede sollte dies offensichtlich sein.

"… weniger ein wissenschaftlicher als ein literarischer Akt": Deschner als "Spezialist für den Zusammenhang" und Brückenbauer zwischen Wissenschaft und Kunst

Mitunter bezieht sich die Kritik an Deschners wissenschaftlichen Leistungen nicht auf seinen ethischen Ansatz per se, sondern darauf, dass er häufig nur mit Sekundärquellen arbeite und insgesamt die Komplexität geschichtlicher Prozesse in unzulässiger Weise reduziere. Unzweifelhaft besteht hier ein Unterschied zu jenen Fachhistorikern, die sich intensiv mit bloß einer Person, einer Zeitepoche, einer Nation beschäftigen. Deschner, der im Alleingang zwei Jahrtausende abendländischer Entwicklung darstellt, muss sich notgedrungen stärker auf Vorarbeiten anderer Autoren verlassen (anders wäre ein Werk wie die "Kriminalgeschichte des Christentums" bei allem Einsatz des Autors allein zeitlich nicht zu bewältigen). Und natürlich ist Deschner auch in besonderem Maße gezwungen, die Vielfältigkeit geschichtlicher Entwicklungen auf das Wesentliche "einzudampfen", damit Geschichte im Zusammenhang überhaupt darstellbar bleibt.

Ist damit die Wissenschaftlichkeit des Werks in Frage gestellt? Auch hier lautet die Antwort: Nein. Selbst wenn die lange geförderte Überspezialisierung der akademischen Wissenschaft einen anderen Eindruck erwecken mag, so ist es für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt doch in vielen Fällen fruchtbarer, das Umfassende unvollständig zu beschreiben als das Unvollständige umfassend. Genau dies ist der Anspruch der "Kriminalgeschichte des Christentums". Sie möchte ein zwar unvollständiges, aber doch umfassendes Bild vermitteln, muss Geschichte daher aus der Vogelperspektive betrachten, nicht aus jener Froschperspektive, die für viele heutige Forscher so charakteristisch ist.

Die in der real existierenden Wissenschaft leider allzu häufig vernachlässigte Aufgabe, das Umfassende unvollständig zu beschreiben, verlangt einen (heute! Zu Kants Zeiten war dies noch anders!) exotisch anmutenden Wissenschaftlertypus, nämlich Spezialisten für den Zusammenhang, die – als Universal-Dilettanten mit einem gewissen Mut zur Unexaktheit ausgestattet – auch jene theoretischen Klippen meistern können, an denen die detailverbissenen Fachidioten traditionaler Wissenschaft scheitern müssen.

Karlheinz Deschner kann auch hier als Vorbild dienen. Er ist das Wagnis eingegangen, komplexe Zusammenhänge aufzuzeigen, statt sich wie die meisten Fachwissenschaftler mit klar definierten, meist jedoch unbedeutenden Detailfragen zu beschäftigen. Gerade in unserer Zeit, die Jürgen Habermas einmal treffend mit dem Begriff "Neue Unübersichtlichkeit" charakterisierte(25), sind solche "Spezialisten für den Zusammenhang", die die fragmentierte Wirklichkeit, die vielen Mosaiksteinchen der Erkenntnis, zu einem stimmigen Ganzen zusammensetzen, notwendiger als je zuvor. Ohne sie würden wir den "Wald vor lauter Bäumen" wohl überhaupt nicht mehr erkennen und in der Folge noch anfälliger werden für jene übersichtlichen Halbwahrheiten, aus denen talentierte Demagogen mit erschreckender Präzision ganze Erfolge machen.(26)

Um diese stets virulente Gefahr abzuwenden, genügt es freilich nicht, dass diejenigen, die sich dem unvollendeten Projekt der Aufklärung verpflichtet fühlen, die vergessenen, verdrängten, übersehenen Zusammenhänge entdecken und ethisch (siehe vorangegangenen Abschnitt) reflektieren, sie müssen auch in der Lage sein, diese Zusammenhänge in eine Form zu bringen, die der Sache angemessen ist. Dies allerdings ist, wie Karlheinz Deschner mit Blick auf die Historiographie formulierte, "weniger ein wissenschaftlicher als ein literarischer Akt"(27). Tatsächlich geht es hier weniger um Fragen der wissenschaftlichen Exaktheit und intellektuellen Redlichkeit als um Fragen der Komposition, des Stils. Ein Gebiet, auf dem Karlheinz Deschner bekanntlich seine ganz besondere Meisterschaft zeigt.

Auch wenn es von großem Belang ist, was Deschner schreibt, seine Bedeutung (und auch sein Erfolg!) als Schriftsteller ist mindestens ebenso sehr darin begründet, wie er schreibt. Wie kaum einem anderen Autor gelang es Deschner, Wissenschaft und Kunst miteinander zu vereinbaren. Er zeigte auf, dass wissenschaftliche Präzision nicht daran gekoppelt ist, dass man jene tote Bürokratensprache verwendet, die "ordentliche Wissenschaftler" gerne dazu benutzen, um potentielle Kritiker vorzeitig in Schlaf zu versetzen. Er machte klar, dass man sehr wohl auf der Klaviatur des emotionalen Ausdrucks spielen kann, ohne dabei den Verstand zu betäuben.

Deschners Fähigkeit zur brillanten, intellektuell wie emotional ansprechenden Formulierung zeigte sich schon in frühen Jahren (obgleich der Autor 1980, im Vorwort zur Neuausgabe von "Kitsch, Konvention und Kunst", (allzu) selbstkritisch meinte, dass er in seinen Dreißigern keineswegs habe schreiben können). Als Beleg hierfür sei eine kurze Passage aus Deschners Erstlingswerk "Die Nacht steht um mein Haus" zitiert:

"Nein, es ändert sich nichts. Guckt in die Zeitungen, die Kinos, in die Wochenschauen, da zeigen sie Modedämchen, da zeigen sie die Kaiserin soundso mit dem Nerzmantel, den ihr Stalin geschenkt hat, da zeigen sie chinesische Flüchtlinge, in Lumpen, in Fetzen, verhungert, zerbombt, da zeigen sie die tollsten Gegensätze, und das Volk sitzt da, stur sitzt es da, zurückgelehnt, Bonbons lutschend, es ist nur die Vorschau, der Film läuft gleich an. Nein, sie stehen nicht auf, sie schlagen nicht alles kaputt, nicht die Leinwand, nicht das Kino, nicht die Mächte, die die Welt klein halten, die sie ausbeuten, nein, sie sitzen da, sie sitzen da, es ist nur die Vorschau, der Film läuft gleich an. Nichts läuft gleich an, es läuft schon längst, das Rad dreht sich, es dreht sich rasend, und jeden Tag steht die Welt millionenmal still."(28)

Kann man es besser formulieren, einprägsamer, treffender, musikalischer? Wohl kaum. Deschners Texte – gleich welcher Gattung sie entstammen – sind im Grunde ins Literarische transformierte Kompositionen, Wort gewordene Musik.

Nebenbei: Es ist m.E. kein Zufall, dass Deschner ein großer Verehrer der Musik Anton Bruckners ist. Bei allen gewichtigen Unterschieden zwischen dem kämpferischen Aufklärer Deschner und dem naiv-gläubigen Katholiken Bruckner gibt es interessante Parallelen, nicht nur auf menschlicher(29), sondern auch auf stilistischer Ebene. Wie Bruckner erzeugt Deschner beispielsweise immer wieder weit ausladende Spannungsbögen, indem Motive/Motivfragmente sequenziert und dabei von Sequenz zu Sequenz gesteigert werden. Während Bruckner musikalische Fragmente meist in Halbtonschritten nach oben schraubt (Modulationen und Rückungen), benutzt Deschner vorzugsweise Aufzählungen, um durch die Aneinanderreihung von inhaltlich ähnlichen, von Mal zu Mal aber formal drastischeren, zugespitzteren Figuren eine vergleichbare Wirkung zu erzielen. Auf dem Höhepunkt der so erzeugten Spannung folgt bei Bruckner häufig ein kraftvolles, prägnantes, auf das Wesentliche reduziertes Hauptthema, bei Deschner eine ebenso kraftvoll-prägnante, auf das Wesentliche reduzierte Stellungnahme, vorzugsweise in Gestalt eines Aphorismus, eine Stilform bekanntlich, die Deschner wie kaum ein anderer beherrscht.

Dank der klugen Komposition seiner Texte – die Parameter Klang, Harmonik, Dynamik, Tempo und Rhythmik sind in seinen Arrangements stets perfekt aufeinander abgestimmt! – konnte Deschner nicht nur die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, sondern auch zwischen Wissenschaft und Laienpublikum überwinden. Seine Texte waren und sind erfrischend anders als die häufig gestelzt formulierten Werke der Fachhistoriker, sind auch für Laien spannend zu lesen, packend von der ersten bis zur letzten Seite – und dies, obwohl Deschner weder auf inhaltlicher noch auf formaler Ebene jemals Kompromisse eingegangen ist.

Mit unerbittlicher Konsequenz hat der "Wissenskünstler" Deschner in den letzten Jahrzehnten seinen "eigenen" Weg verfolgt, einen Weg jenseits der ausgetretenen Pfade staubiger Wissenschaftsprosa, seichtem Infotainment und künstlerisch-manieristischer Selbstbespiegelung. In seinem Werk vereinigen sich die besten Traditionen des wissenschaftlichen und künstlerischen Emanzipationsprozesses: Kritische Rationalität, wissenschaftliche Systematik, humanistisches Ethos, künstlerische Sensitivität und ästhetische Gestaltungskraft ergänzen sich hier auf besondere Weise.(30) Dies ist nicht zuletzt der Grund dafür, warum Deschners Werk so nachhaltige Wirkung zeigte und wohl auch noch in Zukunft zeigen wird.

"Berühmte sind Leute, die man etwas später vergisst": Zur Wirkung von Werk und Autor

Welch befreiende Wirkung Deschners Schriften (insbesondere in den späten 50ern und 60ern) entfalteten, wird deutlich, wenn man einen Blick wirft in die Abertausende von Leserbriefen, die der Autor über die Jahre hinweg erhalten hat. Deschner hat – wie kaum ein anderer – schon sehr früh in aller Klarheit ausgesprochen, was andere vielleicht ahnten, aber nicht zu formulieren wagten. Wer das mulmige, indifferente Gefühl hatte, dass da irgendetwas Grundlegendes nicht stimmt, an dieser Religion, diesem Staat, dieser Gesellschaft, dieser Kunst, der fand in Karlheinz Deschner einen, der es prägnant auf den Punkt brachte.

Vor nicht allzu langer Zeit fragte ein strenggläubiger Katholik (im Internet-Deschner-Forum, siehe www.deschner.info) brüskiert, wie viele Kirchenaustritte (und damit für ihn: auch verirrte Seelen, die dereinst im Höllenfeuer werden leiden müssen) wohl allein auf das Konto dieses einen Schriftstellers gingen. Selbstverständlich lässt sich so etwas schwer quantifizieren. Bei einem Schriftsteller wie Karlheinz Deschner, dessen kirchenkritische Schriften ein Millionenpublikum erreichen, sollte die Zahl derer, die durch die Lektüre der Werke den (ersten oder letzten) Anstoß zum Kirchenaustritt erhielten, sicherlich nicht gering bemessen werden, zumal man hier nicht nur die direkten, sondern auch die indirekten Wirkungen einkalkulieren müsste. Unter Deschners Lesern finden sich ungewöhnlich viele Multiplikatoren, Autoren, die das, was sie bei Deschner lernten, in ihren eigenen Werken aufgriffen, weiterverarbeiteten und so indirekt Deschnerische Impulse weitergaben, selbst wenn der Name "Deschner" in manchen dieser Arbeiten verbis expressis gar nicht fällt.

Wie gesagt: Deschners Wirkungen sind bei alledem keineswegs allein auf die Religions- und Kirchenkritik begrenzt. Wichtige Impulse gab er auch auf anderen Gebieten. Zu berücksichtigen sind hier u.a.:

a) die Wissenschaftstheorie (Kaum ein Autor hat die Wichtigkeit einer ethischen Fundierung der Wissenschaft so klar herausgestellt wie er. Zudem hat er gezeigt, dass es auch im Zeitalter der "Neuen Unübersichtlichkeit" und des "Postmodernismus" möglich ist, Zusammenhänge aufzuzeigen.);

b) die kritische Geschichtsschreibung (Deschners Leistungen auf diesem Gebiet betreffen nicht nur die Kirchengeschichte, sondern letztlich den kritischen Umgang mit Geschichte im Allgemeinen. Konkrete Beiträge lieferte er zudem zur historiographischen Aufarbeitung des Faschismus, der amerikanischen Geschichte sowie zur Zerschlagung Jugoslawiens.);

c) die Literatur (Nicht nur Deschners Romane und Aphorismen, auch seine Sachbücher sind stilistisch brillant, wahre Meisterwerke der Literatur. Dass Deschner im Band "Zitate und Aussprüche" des zwölfteiligen Duden [immerhin das Standardwerk der deutschen Sprache!] der meistzitierte namhafte deutsche Autor der Gegenwart ist, sollte daher nicht verwundern. Es ist zu hoffen, dass auch die Literaturwissenschaft irgendwann einmal die Bedeutung des kritischen Sprachkünstlers Deschners und seiner ganz eigenen "Ästhetik des Widerstands" angemessen zu würdigen weiß.)

d) die Literaturkritik (Die Wirkung seiner literaturkritischen Werke war insbesondere in den 50er/60er Jahren gewaltig. Deschner war es, der die damals noch maßlos unterschätzten Autoren Musil, Broch oder Jahnn in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte. Zudem entwickelte er wichtige Kriterien, die auch heute noch hilfreich sind, um gute Autoren von schlechten systematisch unterscheiden zu können.);

e) die Tierrechtsbewegung (Der ehemalige Wilddieb Deschner lieferte durch seine sensible Schilderung der Tierwelt und ihrer Nöte schon in den 50er Jahren glänzende Vorlagen für die erst später langsam aufkommende Tierrechtsbewegung. Mögen manche seiner Darstellungen und Vergleiche auch über ihr Ziel hinausschießen (vgl. Anmerkung 30), seine Beiträge zu einem ethisch fundierten Vegetarismus und einem Tierschutz, der diesen Namen auch verdient, sind von bleibendem Wert.); sowie

f) last but not least: die "Streitkultur der Aufklärung" im Allgemeinen (Deschner war stets ein schmerzender Stachel im Fleisch der Zeit, an dem sich die Diskussion immer wieder neu entzünden musste. Und er wusste, dass er sich in dieser Funktion nicht gerade beliebt machen würde. Schließlich ist Aufklärung, wie er selbst einmal treffend formulierte, "Ärgernis": "Wer die Welt erhellt, macht ihren Dreck deutlicher."(31) Dadurch dass Deschner all die Risiken einging, die mit dem Projekt der Aufklärung verbunden sind (Gefahr der sozialen Ächtung, finanzielle Schwierigkeiten usw.), dass er jederzeit den Mut hatte, "sich des eigenen Verstandes zu bedienen", avancierte er zu einem großen Vorbild für all jene, denen das Projekt der Aufklärung am Herzen liegt. Deschner demonstriert mit seinem Leben und Werk, dass gerade dort "Streitkultur" und "aufrechter Gang" verlangt sind, wo andere reflexartig (also unreflektiert) auf die Knie fallen. Dabei erweitert er – auch durch die kompromisslose Klarheit seiner Sprache – in beachtlichem Maße das Freiheitsspektrum, das Generationen von Aufklärern vor ihm im Kampf gegen die stets auch mit Denkverboten einhergehenden Herrschaftsansprüche weltlicher und geistlicher Machthaber erstritten haben. Es ist zu hoffen, dass Deschners Nachfolger, diejenigen also, die die Fackel der Aufklärung von ihm übernehmen werden, es verstehen werden, diesen hart erkämpften Freiheitsraum zu erhalten bzw. ihrerseits zu erweitern. Denn eines steht fest: Auf einen Fortschrittsautomatismus in der Geschichte (einen zwangsläufigen Sieg des "Teams Aufklärung") sollten wir keineswegs vertrauen. Die Früchte der Aufklärung können jederzeit wieder verspielt werden…)

Es sind gerade Deschners unbestreitbare Leistungen als streitbarer Verfechter der Aufklärung, die bislang eine angemessene Rezeption seines Werks in der ängstlichabwägenden Welt der traditionellen Wissenschaft verhindert haben. So traurig es auch ist, wahrscheinlich wird Deschner – wie seine Vorgänger Schopenhauer oder Nietzsche – erst dann von den Meier, Müller, Schulzes der Wissenschaft ernst genommen werden, wenn er nicht mehr unter den Lebenden weilt. Nur ein toter Autor ist ein großer Autor, hieß es hierzu in der Einleitung dieses Artikels, auf deren Grundgedanken ich noch einmal zurückkommen möchte.

Ich denke, es ist sehr gut möglich, dass Karlheinz Deschner irgendwann einmal zum "Klassiker" avanciert und mit Nietzsche, Schopenhauer, Heine & Co. in die "Riege der kulturellen Scheinriesen (Turturismus)" eingeordnet wird – mit allen positiven und negativen Konsequenzen, die mit einer solchen Transformation der Rezeptionsweise verbunden sind. Zu den positiven Folgen dürfte zählen, dass Deschners Werk unter diesen Umständen auch auf internationaler Ebene größere Anerkennung finden würde. Bislang ist Deschners Wirkung noch weitgehend auf den deutschen Sprachraum beschränkt. (Es gab zwar zahlreiche Übersetzungen seiner Bücher,(32) merkwürdigerweise aber erschien bislang kein einziges Deschner-Werk auf dem so wichtigen englischen/amerikanischen Buchmarkt!)

Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass mit zunehmendem historischem Abstand (und damit auch abnehmender Gefährlichkeit des Autors!) sich auch jene blassen Vertreter akademischer Wissenschaft um Deschner bemühen werden, die zu seinen Lebzeiten aus Reputationsgründen jeden Kontakt strengstens gemieden hätten. Selbstverständlich könnte hieraus auch eine Gefahr erwachsen, nämlich die Gefahr einer künftigen "Entdeschnerisierung" Deschners, entsprechend etwa jenem Prozess der "Entnietzschung" Nietzsches, den Hermann Josef Schmidt so überzeugend dargestellt hat(33), allerdings ist zu vermuten, dass eine solche Verharmlosungs- und Entstellungsstrategie im Falle Deschners weniger dramatisch ausfallen dürfte, da sein Werk doch weit weniger ambivalent ist das Werk Friedrich Nietzsches.

Insgesamt müsste man also keine allzu großen Einwände haben, würde man Deschner dereinst "Scheinriesenstatus" zuweisen, wäre da nicht jener seltsam religiös anmutende, dem Deschnerschen Denken zutiefst widersprechende "Mythos der Genialität", der mit dem "Turturismus" notwendigerweise verbunden ist. Wie bereits geschildert, geht Deschner als Determinist/Naturalist davon aus, dass alles, was Menschen tun oder unterlassen, ein Produkt ihrer Erbanlagen und Lebenserfahrungen ist. Das gilt natürlich auch für kreative Leistungen, die keineswegs als akausale Akte ihrer jeweiligen "Urheber" begriffen werden sollten.

In diesem Zusammenhang sei eine kurze Expedition ins "Labyrinth der Gelehrsamkeit"(34) erlaubt: Im Jahre 1676 konterte Newton auf die Zuschreibung besonderer Originalität mit dem später berühmt gewordenen Wort: "Wenn ich weiter gesehen habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe." Sieht man einmal davon ab, dass selbst Newton (sicherlich alles andere als ein Zwerg in der Wissenschaftsgeschichte!) offensichtlich anfällig für das Scheinriesenphänomen war (seine Vorgänger waren gewiss keine Riesen, sondern dachten wohl ebenso wie er, bloß auf den Schultern von "Riesen" zu stehen…), so ist die grundlegende Selbsterkenntnis Newtons doch mit Sicherheit richtig: So originell uns die bedeutenden Werke der Wissenschaft und Kunst auch erscheinen mögen, diejenigen, die sie hervorbrachten, waren doch stets im höchsten Maße abhängig von dem, was andere zuvor bereits geleistet hatten.

Dies sollte keineswegs als Abwertung empfunden werden. Ebenso wie ein Verbrechen auch dann noch ein Verbrechen bleibt, wenn man weiß, dass der Täter gar nicht anders handeln konnte (siehe oben), so bleibt auch ein Meisterwerk ein Meisterwerk, selbst wenn sein "Schöpfer" als Einzelperson im strengen Sinne gar nicht Urheber des Werkes ist, sondern lediglich das letzte Glied einer langen, unendlich komplizierten Determinationskette. Das soll nicht heißen, dass die berühmten Wissenschaftler und Künstler der Vergangenheit keine faszinierenden Persönlichkeiten waren (natürlich waren sie das, sonst hätten sie ihre Werke kaum hervorbringen können), aber es lag schlichtweg nicht in ihrer Hand, weniger faszinierend, weniger kreativ zu sein. Ihr Stil, ihre Meisterschaft, ihre Berühmtheit – all dies ist bei genauerer Betrachtung nichts weiter als ein Resultat des sinnfreien Zusammenspiels von Zufall und Notwendigkeit.

Karlheinz Deschner schrieb einmal: "Berühmte sind Leute, die man etwas später vergisst."(35) Wie so häufig traf er mit der Formulierung ins Schwarze. Unsterblich ist nicht einmal der Ruhm Ludwig van Beethovens. Selbst er – so ungeheuerlich es auch erscheint – wird irgendwann einmal vergessen sein, wie alles, was Homo sapiens je hervorgebracht hat.(36) So sicher es also ist, dass auch das Werk Karlheinz Deschners letztlich irgendwann einmal in Vergessenheit geraten wird: Wenn es in der Kultur- und Geistesgeschichte auch nur halbwegs mit rechten Dingen zugeht, dürfte dies in absehbarer Zeit kaum geschehen.

Schon allein aufgrund seiner besonderen literarischen Qualität gehört Deschners Werk zu den kostbarsten Juwelen der abendländischen Emanzipationsgeschichte, ein Juwel, das auch in Zukunft noch funkeln sollte, um die Welt zu erhellen und jenen Dreck zu verdeutlichen, der ansonsten liebend gerne wieder unter den Teppich gekehrt würde. Ich bin überzeugt: Der Aufklärer Deschner wird noch lange ein Ärgernis bleiben. Nicht nur, weil die Themen, die er behandelte, aktuell bleiben werden, sondern vor allem, weil Schriftsteller seines Formats in einem Meer des Mediokren zu jeder Zeit seltene Ausnahmeerscheinungen waren – nicht nur in Deutschland.

Kaum ein Autor hat den aufklärerischen Gedanken in solch überzeugender Weise sprachlich gefasst wie Karlheinz Deschner. Hierin liegt seine bleibende Bedeutung, seine Größe, sein Vermächtnis. Künftige Generationen von Aufklärern werden dies zu schätzen wissen…


Anmerkungen:

(1) Da ich seit Januar 2004 Deschners offizielle Website www.deschner.info betreue und als Vorstandsmitglied der Giordano Bruno Stiftung (www.giordano-bruno-stiftung.de) maßgeblich an der Planung und Durchführung des Festakts zu Deschners 80. Geburtstags beteiligt war, kam es zwangsläufig zu einem engeren Kontakt mit dem Autor.

(2) Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sowohl Deschner als auch der Verfasser dieses Artikels eine philosophische Perspektive vertreten, die jegliche Form von "Geniekult" von vornherein ausschließt: Wer nämlich die sog. "Willensfreiheit" des Menschen als bloße Illusion begreift, für den ist evident, dass Menschen nur genau das wollen, denken, leisten können, was sie aufgrund von genetischer Ausstattung und Lebenserfahrungen wollen, denken, leisten müssen. Wenn aber das "Ich" – wie schon Freud schrieb – nicht mehr "Herr im eigenen Haus" ist, gibt es keinen Grund mehr, auf "eigene" Leistungen stolz zu sein oder sich ihrer zu schämen. Siehe hierzu Deschners Ausführungen in seiner Ansprache auf dem Haßfurter Festakt (abgedruckt in diesem Band) sowie meine eigenen Darlegungen zum gleichen Thema in "Erkenntnis aus Engagement. Grundlegungen zu einer Theorie der Neomoderne" (Alibri 1999) sowie in den Aufsätzen: "Können wir wollen, was wir wollen? Unzeitgemäßes zur Theorie der Willensfreiheit" (in: Aufklärung und Kritik 2/1995) oder "Hoffnung jenseits der Illusionen? Die Perspektive des evolutionären Humanismus" (in: Albertz, Jörg: Humanität – Hoffnungen und Illusionen. Schriftenreihe der Freien Akademie, Band 23. Berlin 2004).

(3) Auch diese interessante Episode hat Hermann Gieselbusch ausgegraben und erstmals im Rahmen des 80. Geburtstags von Deschner dem staunenden Publikum präsentiert. (Sämtliche Reden zum Festakt können übrigens auf www.deschner.info nachgelesen werden.)

(4) vgl. Schmidt-Salomon, Michael (2004): Das Feuerbach-Syndrom. Warum Religionskritik in der Wissenschaft noch immer ein Tabuthema ist. In: MIZ 2/2004.

(5) vgl. hierzu meine Kritik am "Sozialsystem Wissenschaft" in: Schmidt-Salomon, Michael (1999): Erkenntnis aus Engagement. Aschaffenburg, S.385ff.

(6) vgl. hierzu Seliger, Hans Reinhard (Hrsg.) (1993): Kriminalisierung des Christentums? Karlheinz Deschners Kirchengeschichte auf dem Prüfstand. Freiburg; sowie die ausführliche Entgegnung von Hermann Josef Schmidt in MIZ 1/ und 2/1994. Vgl. auch Deschners Replik im 5. Band der Kriminalgeschichte des Christentums.

(7) Gieselbusch, Hermann (1994): Deschner bei Rowohlt. Eine Skizze. In: Gieselbusch, Hermann (Hrsg.): Karlheinz Deschner. Leben, Werke, Resonanz. Rowohlt, Reinbek, S. 9

(8) Markanter Ausspruch eines Deschnerkritikers, den Ricarda Hinz als Titel für ihre schöne Videodokumentation über Karlheinz Deschner wählte.

(9) vgl. den interessanten, von den Töchtern Bärbel und Katja Deschner herausgegebenen Sammelband "Sie Oberteufel. Briefe an Karlheinz Deschner".

(10) Schlusssatz des Exposés zur "Kriminalgeschichte des Christentums", das Deschner 1970 an den Rowohlt-Verlag schickte, zitiert nach Gieselbusch (1994), S. 10

(11) Schopenhauer, Arthur (1818/1977): Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Schopenhauer, Arthur: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Band 4. Zürich, S. 680

(12) vgl. Camus, Albert (1951/1969): Der Mensch in der Revolte. Reinbek.

(13) Zitat entnommen dem Klappentext zu Deschner, Karlheinz (1956/1998): Die Nacht steht um mein Haus. Bamberg.

(14) vgl. hierzu und zum Folgenden Schmidt-Salomon (1999), S. 355ff. Siehe auch Schmidt-Salomon, Michael (2003): Was ist Wahrheit? Das Wahrheitskonzept der Aufklärung im weltanschaulichen Widerstreit. In: Aufklärung und Kritik 2/2003.

(15) vgl. Blackmore, Susan (2000): Die Macht der Meme oder: Die Evolution von Kultur und Geist. Heidelberg.

(16) Weber, Max (1985): Die ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen, S.151

(17) Weber (1985), S.157

(18) Deschner, Karlheinz (1986): Kriminalgeschichte des Christentums. Band 1. Reinbek, S.59ff.

(19) Eine bedauerliche Ausnahme bildet hier das Buch zur amerikanischen Geschichte (Deschner, Karlheinz (1992/2003): Der Moloch. Eine kritische Geschichte der USA. München). Der Verleger der Originalausgabe wollte das Buch möglichst schnell auf den Markt bringen und nicht auf die Fertigstellung des Quellenapparats warten. Deschner, der bereits den Vorschuss für das Buch kassiert hatte, gab dem (wider besseren Wissens) nach. Tragischerweise kam Deschner wenig später das Quellenmaterial abhanden und konnte es im Nachhinein aus Zeitgründen auch nicht mehr rekonstruieren, sodass auch die aktualisierte Neuausgabe des Buches bei Heyne ohne den ansonsten obligatorischen Quellenapparat publiziert werden musste. Dies schmälert den wissenschaftlichen Wert dieses Buches, das ohnehin darunter leidet, dass Deschner hier – im Gegensatz zur "Kriminalgeschichte" – darauf verzichtete, seine Erkenntnisinteressen, d.h. auch die spezifische "Einseitigkeit" seines Forschungsprogramms offenzulegen, Dadurch können Kritiker leicht dazu verleitet werden, dem Autor einen dogmatischen Antiamerikanismus zu unterstellen.

(20) Deschner (1986), S.66f.

(21) Deschner (1986), S.47

(22) vgl. Deschner (1986), S.61

(23) Deschner (1986), S.65

(24) Deschner, Karlheinz (1994a): Was ich denke. München, S.92f.

(25) vgl. Habermas, Jürgen (1985): Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt/M.

(26) Zum Zusammenhang von postmoderner Unübersichtlichkeit und prämoderner Regression siehe Schmidt-Salomon (1999), S.66ff. sowie S.141ff.

(27) Deschner (1986), S.45

(28) Deschner (1956/1998). S.79

(29) Anzuführen wären hier u.a. der starke Naturbezug (Deschners atmosphärisch dichte, stimmungsvolle Naturbeschreibungen erwecken zuweilen den Eindruck, er habe Bruckners Sinfonien in Worte fassen wollen); der hohe Anspruch an das eigene Werk (ablesbar u.a. daran, dass beide es als nötig empfanden, ihre Werke ständig zu überarbeiten; auch Bruckner hatte "ein Schafott in sich") oder die tief empfundene Sehnsucht nach einer anderen, einer besseren Welt (bei Bruckner freilich religiös überformt, man könnte seine Sinfonien dennoch wunderbar mit dem Deschner-Aphorismus "Licht ist meine Lieblingsfarbe" charakterisieren, scheinen diese doch aus tiefster Dunkelheit "dem Licht" entgegen zu streben).

(30) Gewiss: Es gibt bei Deschner durchaus Momente, in denen das Subjektive, Literarische über das wissenschaftlich Rationale siegt, worunter zwangsläufig die "Objektivität der Darstellung" leidet. Dies gilt vor allem für seine Naturbeschreibungen. Die Natur erscheint bei Deschner häufig in verklärtem Licht, beispielsweise wenn er formuliert: "Der Mensch, sagt Spengler, ist das Raubtier mit den Händen. Eine euphemistische Metapher, die Banken und Atombombe involviert, Sklaverei und Inquisition, Schlachthäuser und Gaskammern und Genickschüsse und Gentechnik. Das alles ahnt das Raubtier ohne Hände nicht. Es verdummt auch nicht, es betet nicht an, betrügt nicht, lügt nicht, beutet nicht aus, kurz, fast jeden Vorzug hat es außer dem, die Krone der Schröpfung zu sein." (Deschner, Karlheinz (1994b): Ärgernisse. Aphorismen. Reinbek, S.57) Beispiele wie dieses zeigen, dass der Kultur- und Gesellschaftskritiker Deschner – obgleich er um den steten Kampf und das Leiden in der Natur weiß und dies auch schmerzlich empfindet – nicht auch noch "Naturkritiker" sein will. Unbestritten ist – siehe die Ergebnisse der Tierverhaltensforschung, die Deschner keineswegs abstreitet – dass auch Tiere betrügen, lügen oder ausbeuten. (Zur Dekonstruktion des romantischen Naturbildes siehe u.a. Wuketits, Franz (1999): Die Selbstzerstörung der Natur. Evolution und die Abgründe des Lebens. Düsseldorf.) Wenn Deschner also um die "Grausamkeit in der Natur" weiß, warum wird sie in seinen Werken so hartnäckig ausgeblendet? Ich denke, diese tendenzielle Verleugnung der natürlichen Realität erfüllt bei Deschner einen sowohl ästhetischen als auch existentiellen Sinn: Sie dient als Kontrapunkt zur Düsternis und Brutalität der menschlichen Geschichte, ist – neben den Höhepunkten der Geistes- und Kunstgeschichte (Deschner erwähnt hier u.a. Eichendorff, Trakl, Kafka, Breughel, Ruisdael, van Gogh, Bach, Beethoven, Bruckner – Deschner (1994c): Musik des Vergessens. Bad Nauheim) – eine Quelle des "Lichts", die die Permanenz des Elends existentiell erträglich macht.

(31) vgl. das Motto des Aphorismus-Bandes "Ärgernisse" (Deschner 1994b)

(32) So wurde "Abermals krähte der Hahn" u.a. in Norwegen und in den Niederlanden herausgebracht, "Die Nacht steht um mein Haus" u.a. in Frankreich und im ehemaligen Jugoslawien, "Der Moloch" liegt interessanter Weise in arabischer (!) Fassung vor, es gab auch bereits Übersetzungen einzelner Deschner-Werke ins Chinesische, Griechische, Polnische, Italienische, Russische und Spanische. Allerdings weiß im Moment niemand genau, welche Werke im Ausland zur Zeit überhaupt in Buchform vorliegen und wie stark ihre Verbreitung ist.

(33) vgl. Schmidt, Hermann Josef (2000): Wider weitere Entnietzschung Nietzsches. Eine Streitschrift. Aschaffenburg.

(34) vgl. hierzu: Merton, Robert (1989): Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt/M.

(35) Deschner (1994b), S.13

(36) Wir übersehen gerne, dass Homo sapiens mit größter Sicherheit irgendwann einmal nicht mehr existieren wird und in der Folge auch alle kulturellen Errungenschaften unserer Spezies ausgelöscht werden. Dies alles wird wohl spätestens mit dem Verglühen unserer Sonne eintreten, allerspätestens mit dem "Kältetod" des uns bekannten Universums, wahrscheinlich aber – dank unserer gut dokumentierten Cleverness! – schon viele Jahrmillionen früher. Nach diesem finalen Datencrash wird alles Menschliche, selbst alles menschliche Vergessen, vergessen sein. Davor schützt selbst die größtmögliche Form von Berühmtheit nicht...



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