Prof. Dr. Konrad Löw (Baierbrunn)

Mythos Marx

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, Sonderheft 10/2005 "Was bleibt vom Marxismus?", S. 3-26

 

I. Eine aktuelle Herausforderung

3,3 Millionen Zuschauer haben sich an der Abstimmung "Unsere Besten" im Zweiten Deutschen Fernsehen (29. 11. 03) beteiligt, 778 984 dafür gesorgt, daß Konrad Adenauer auf den ersten Platz kam. Für Karl Marx stimmte über eine halbe Million, was ihm – nach Martin Luther – Rang drei einbrachte. Die Bewohner der neuen Bundesländer halten Marx mehrheitlich sogar für "Unseren Besten".

Ist daran etwas anstößig? Bevor man mit Ja oder Nein antwortet, ist es geboten, über Marx und seine Auswirkungen nachzudenken. Schließlich haben – wie heute unbestritten – bekennende Marxisten den Tod von über 85 Millionen Menschen zu verantworten. Das "Schwarzbuch des Kommunismus", vor fünf Jahren in Deutschland erschienen, bietet die Beweise. Da drängt sich die Frage auf, ob sich die Mörder zu Recht auf Marx berufen haben, oder ob diese Berufung auf einer Verkennung der Tatsachen beruht, ob der Name Marx vielleicht sogar absichtlich mißbraucht worden ist. Doch keines unserer Massenmedien stellt diese Fragen, wagt es gar, nach der Antwort zu suchen.

1968 wurde ich gebeten, neben meinen staatsrechtlichen Vorlesungen die Bundesrepublik Deutschland betreffend auch Veranstaltungen zum politischen System der "Deutschen Demokratischen Republik" anzubieten. Bereits beim Studium des ersten Artikels der dortigen Verfassung stieß ich auf ein Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus. Also mußte ich mich mit der Lehre des Karl Marx und seines Freundes Friedrich Engels sowie der Wladimir Lenins vertraut machen. Dies tat ich, der gebotenen Eile wegen, zunächst anhand der damals gängigen Sekundärliteratur. In dem Maße, wie ich später Zeit fand, die Quellen selbst zu befragen, veränderte sich mein Verständnis ihrer Meinungen und Lehren, insbesondere ihrer Motive und Ziele.

Im folgenden sollen das Werk und der Mann in der gebotenen Kürze vorgestellt werde. Als Leitfaden verwende ich eine Ansprache Engels‘. Bei der Bestattung von Karl Marx hat er – so wird berichtet – "ungefähr folgendes" geäußert:

"Am 14. März nachmittags ein Viertel vor drei [1883] hat der größte lebende Denker aufgehört zu denken...

Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte...

Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Entwicklungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehrwerts war hier plötzlich Licht geschaffen...

So war der Mann der Wissenschaft. Aber das war noch lange nicht der halbe Mann. Die Wissenschaft war für Marx eine bewegende, eine revolutionäre Kraft...

Denn Marx war vor allem Revolutionär."

Engels ist insofern beizupflichten, als Geschichtsphilosophie (III.), Nationalökonomie (IV.) und revolutionäre Agitation (V.) das Denken und Schreiben von Marx bestimmt haben. Welches waren die Motive seines Handelns (VI.)? Wie erklärt sich der Erfolg (VII.)? Doch vorab einige Angaben zu Marx und seinem alter ego, Friedrich Engels (II.).


II. Biographische Daten

1. Karl Marx

Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier als Sohn des Advokaten Heinrich Marx und seiner Frau Henriette, geb. Presburg, geboren. Beide Elternteile entstammen Rabbinerfamilien. 1824 erfolgte durch Taufe der Eintritt in die lutherische Kirche. 1835 legte Karl am Friedrich Wilhelm Gymnasium das Abitur ab und begann in Bonn das Jurastudium, das er ein Jahr später in Berlin fortsetzte, wo er zur Philosophie überwechselte. 1841 erwarb er in Jena, das er nie aufgesucht hatte, den Doktorgrad. 1842 wurde er für einige Monate Chefredakteur der neu gegründeten Rheinischen Zeitung. Im selben Jahr begegnete er erstmals Friedrich Engels, der ihn damals wie folgt charakterisierte:

"Wer jaged hinterdrein mit wildem Ungestüm?
Ein schwarzer Kerl aus Trier, ein markhaft Ungetüm.
Er gehet, hüpfet nicht, er springet auf den Hacken
Und raset voller Wut, und gleich, als wollt’ er packen
Das weite Himmelszelt und zu der Erde ziehn,
Streckt er die Arme sein weit in die Lüfte hin.
Geballt die böse Faust, so tobt er sonder Rasten,
Als wenn ihn bei dem Schopf zehntausend Teufel faßten."

1843 heiratete Marx Jenny von Westphalen. Aus der Ehe sind sechs Kinder hervorgegangen. 1844 begann die lebenslängliche Freundschaft mit Engels. Sie stellten ihre übereinstimmende Weltsicht fest und vereinbarten Gemeinschaftsprojekte. Nach Zwischenstationen in Brüssel und Paris begab sich die Familie Marx 1849 auf Dauer nach London, wo Marx am 14. März 1883 starb.

2. Friedrich Engels

Engels stammt aus pietistischem Hause. Er wurde am 28. November 1820 in Barmen, heute ein Stadtteil Wuppertals, als Sohn eines erfolgreichen Fabrikanten geboren. Noch vor dem Abitur verließ er auf Wunsch des Vaters das Gymnasium und begann eine kaufmännische Lehre. 1850 begab er sich auf Dauer nach England, wo er in Manchester arbeitete, und zwar in einer Fabrik, die zur Hälfte seinem Vater gehörte, bis er dann im Wege der Erbfolge Miteigentümer wurde. Als wohlhabender Mann übersiedelte er 1869 nach London. Dort starb er kinderlos am 5. August 1895.

3. Die enge Arbeitsgemeinschaft

In einem Essay, betitelt "Friedrich Engels", heißt es resümierend: "Und wenn man fragt, was Engels denn nun eigentlich geschaffen und ausgerichtet hat, was er hinterläßt, dann muß man paradoxerweise antworten: "Marx – und den Marxismus. Ohne Engels kein Marx..." Daran ist zumindest so viel richtig, daß die Familie Marx im Elend umgekommen wäre, hätte ihr nicht Engels über Jahrzehnte hinweg seit den fünfziger Jahren großherzig unter die Arme gegriffen. Engels verzichtete nicht nur auf Honorare für Zeitungsartikel, sondern auch auf den Nachweis seiner Autorenschaft, beides zu Gunsten von Marx. Die beträchtlichen, aber unregelmäßigen Zahlungen wurden ab 1868 in feste regelmäßige Alimentationen umgewandelt. Aber es war weit mehr als nur Materielles, was Engels in die Gemeinschaft einbrachte. Um Marxens Ehe zu retten, spielte Engels sogar den Vater eines Kindes, dessen leiblicher Vater der Freund gewesen ist, und sorgte nach dessen Tode für die ehelichen Kinder, als ob es die eigenen wären.

Mehrere Bücher und Schriften nennen beide als Autoren, so Die Heilige Familie, Die deutsche Ideologie, Das Manifest der Kommunistischen Partei. Als der erste Band von Das Kapital erschien, verfaßte Engels unter eigenem und fremden Namen mindestens neun Besprechungen, um das Werk bekannt zu machen. Band 2 hat Engels nach mühsamen Überarbeitungen veröffentlicht, von Band 3 ist Engels sogar der Autor zahlreicher Passagen. Engels’ Antidühring fand mehr Leser als Das Kapital und diente so in bemerkenswerter Weise der Expansion des Marxismus.

War er Marxens böser Geist oder war er dessen Opfer? Beide Ansichten werden vertreten; doch keine ist richtig. Nach dem Tod des Freundes schreibt Engels in einem Brief: "Das Stückchen vom bösen Engels, der den guten Marx verführt hat, spielt seit 1844 unzählige Male abwechselnd mit dem andern Stückchen von Ahriman-Marx, der den Ormuzd-Engels vom Wege de Tugend abgebracht."

Alles spricht dafür, daß sich da zwei Menschen fanden, die unabhängig voneinander übereinstimmende Ansichten entwickelt hatten.

Was aber "Das Entwicklungsgesetz der Geschichte" und die Lehre vom Mehrwert anlangt, so ist Marx der alleinige geistige Vater. Davon soll nun die Rede sein, handelt es sich doch nach Engels’ Urteil um die beiden Spitzenleistungen des Freundes.


III. "Das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte"

Als Atheist war Marx Materialist, will sagen, daß für ihn nichts Geistiges, sondern nur Körperliches, eben die Materie, das Ursprüngliche, das Primäre gewesen ist. Hegels Dialektik faszinierte ihn auf seine Weise. Engels’ Versuch, die Entwicklung der Natur dialektisch zu erklären (Diamat), billigte er. Doch ausführlicher ist er auf diese Themen nicht eingegangen, insbesondere kann sich keine dieser Auffassungen auf Marx als Urheber berufen. Anders verhält es sich mit dem historischen Materialismus (Histomat). Insofern ist Marx der Baumeister, der vorhandenes Material in eigenwilliger, origineller Weise zusammengefügt hat. Freilich, auch diesbezüglich gibt es keine längeren Abhandlungen aus seiner Feder, was, wenn wir uns die Fülle seiner schriftlichen Äußerungen vergegenwärtigen und seinen Anspruch, das Gesetz der Geschichte erkannt zu haben, doch sehr überrascht. Dennoch ist Engels beizupflichten, der behauptet, Marx habe "kaum etwas geschrieben, wo sie [seine Geschichtsauffassung] nicht eine Hauptrolle spielt."

Worum geht es im Histomat? Er benennt die "Gesetze", nach denen sich die Menschheitsgeschichte vollzogen haben soll und vollziehen werde. Demgemäß heißt es im Kommunistischen Manifest: "Die Kommunisten [vor allen anderen natürlich Marx selbst]... haben theoretische vor der übrigen Masse die Einsicht in die Bedingungen (1.), den Gang (2.) und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung (3.) voraus."

1. Die Bedingungen geschichtlicher Veränderungen

Zu den Kernelementen der Marxschen Theorie zählen die Begriffe: Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Basis und Überbau. Auch wenn uns Marx diesbezüglich keine systematische Abhandlung bietet, wird doch hinlänglich klar, was mit den genannten Worten gesagt sein soll. Produktivkräfte sind jene Kräfte, die der Mensch zur Gewinnung seiner Lebensmittel, zur Sicherung seiner Existenz einsetzt, die geistigen (Verstand und Erfahrung), die physischen (Arbeitskraft) und die in Werkzeug und Maschinen vergegenständlichten geistig-physischen Kräfte (Arbeitsgerät).

Produktionsverhältnisse sind die Rechtsbeziehungen der am Produktionsprozeß beteiligten Menschen zu den Rohstoffen, den Arbeitsgeräten und den Arbeitsprodukten. Marx nennt die Produktionsverhältnisse auch "Eigentumsverhältnisse".

Machen wir uns das Gesagte an Hand von Beispielen klar. Der Sklave ist weder Herr der Rohstoffe noch der Arbeitsgeräte noch der Arbeitsprodukte. Insofern gleicht er dem Leibeigenen und dem Arbeiter im Kapitalismus. Die Rechtsposition des Leibeigenen ist jedoch dadurch besser, daß der Feudalherr keine unbeschränkte Verfügungsmacht über ihn hat. Noch besser stellt sich – in rechtlicher Hinsicht – der moderne Arbeiter, da er über seine Arbeitskraft frei verfügen, das heißt Arbeit und Arbeitsplatz wählen und verlassen kann.

Basis, auch Produktionsweise genannt, ist die von Marx gewählte Bezeichnung für die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse. Als Überbau bezeichnet Marx die rechtliche und politische Ordnung eines Gemeinwesens. Zum Überbau zählen ferner: Kunst, Kultur, Moral, Philosophie, Religion.

Der Überbau ist von der Basis abhängig, wie die bildhaften Ausdrücke schon vermuten lassen. Grundlegende Veränderungen im Bereich der Basis, etwa gänzlich neue Produktionsmittel wie die Dampfmaschinen, haben Auswirkungen auf den Überbau, nicht umgekehrt.

Der Motor der Menschheitsgeschichte ist der Mensch mit seiner wachsenden Arbeitserfahrung. Die Arbeit mit einfachem Arbeitsgerät führt zu einer Geschicklichkeit, die eine Verbesserung der Arbeitsgeräte bewirkt. Die Arbeit mit qualifizierterem Arbeitsgerät führt zu Arbeitserfahrung auf höherem Niveau usw., eine spiralenförmige Entwicklung, die schließlich ein anderes gesellschaftliches Bewußtsein des arbeitenden Menschen zur Folge hat. Der Arbeiter wird mit seinen Arbeitsbedingungen unzufrieden, und diese Unzufriedenheit führt dazu, daß er seine Arbeitsbedingungen als unangemessen empfindet, seine Fesseln sprengt, Revolution macht, die nächste Stufe der Entwicklung betritt. Eine neue Produktionsweise beginnt, und "damit wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um."

2. Welche Perioden durchläuft die Menschheitsgeschichte?

Mit der Ursünde, der Arbeitsteilung, kam der Klassenkampf. Marx: "Freier und Sklave, Patrizier und Plebäer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Geselle, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen im steten Gegensatz zueinander... Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene bürgerliche Gesellschaft hatte die Klassengegensätze nicht aufgehoben."

Nach Marx gibt es insgesamt fünf solcher Produktionsweisen: Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus/Kommunismus. Marx prophezeit: "Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit der kapitalistischen Hülle. Sie werden gesprengt, die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert." "Mit dieser Gesellschaftsformation [eben dem Kapitalismus] schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab."

Diese fünf Stadien reduzieren sich bei näherer Betrachtung auf drei, von denen zwei, nämlich die Urgesellschaft und der kommunistische Endzustand erhebliche Gemeinsamkeiten aufweisen wie Freiheit von Arbeitsteilung, Freiheit von Entfremdung und Freiheit von Ausbeutung. Gleichartig sind auch die drei anderen Gesellschaftsformationen. Ihr gemeinsames Merkmal ist die Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Die Klassenkämpfe negieren den idealen Urzustand, der Kommunismus beendet diese Kämpfe. Auf einen kurzen Nenner gebracht lautet das Ergebnis in der Diktion Marxens: "Der Kommunismus ist die Position als Negation der Negation."

3. Was folgt daraus mit Blick auf die Zukunft?

Die Zukunft gehört dem à Kommunismus. Alle Menschen werden schließlich in ihm auf Dauer leben. Die fortschrittlichsten Staaten marschieren an der Spitze: "Die kommunistische Revolution wird daher keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern, d.h. wenigstens in England, Amerika, Frankreich und Deutschland gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein." Doch der namhafteste Theoretiker des Kommunismus hat sich mit der Ausschmückung "der eigentlichen Menschheitsgeschichte" kaum befaßt. Es gibt nur ganz wenige Äußerungen, die uns einen spaltbreit Einblick in das künftige Paradies gewähren. Da ist einmal jener Text, der, anscheinend im Rausch der Verzückung verfaßt, den Kommunismus als "das aufgelöste Rätsel der Geschichte" bezeichnet. Im Kommunismus werde es keine Interessengegensätze mehr geben, weder der Individuen untereinander, noch der Individuen zum Kollektiv, keine Reichen einerseits und Armen andererseits. Daher werde die Kriminalität fast zum Erliegen kommen. Die Menschen seien dann in vielerlei Berufen ausgebildet, und so mache es die kommunistische Gesellschaft möglich, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." In der höheren Phase des Kommunismus werde der Grundsatz gelten: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!"

4. Stellungnahme

"Materialismus" im philosophischen Sinne meint, wie schon erwähnt, daß Stoffliches das Primäre und Ausschlaggebende sei. Im Histomat verhält es sich aber gerade umgekehrt. Das Werkzeug ist zwar scheinbar tote Materie. Doch in ihm steckt Geist von jenen, die es erdacht und geschaffen haben. Nur in der Hand vernunftbegabter Wesen erfährt es den zweckbestimmten ertragreichen Einsatz. Gänzlich immateriell ist die Arbeitserfahrung, gänzlich immateriell sind auch die Produktionsverhältnisse, eben die Rechtsbeziehungen. Was soll also "Materialismus" in diesem Zusammenhang?

Die Arbeitserfahrung der unmittelbaren Produzenten spielt in der Menschheitsgeschichte eine große Rolle. Die epochalen Erfindungen verdanken wir aber weit überwiegend Menschen, die systematisch geforscht und experimentiert haben, also nicht in den gewöhnlichen Arbeitsprozeß integriert gewesen sind. Voraussetzung für diesen Stand ist Arbeitsteilung, die Marx als Menschheitsfluch disqualifiziert.

Nach Marx hängt das Bewußtsein von der Produktionsweise ab. Ist nicht seine rebellische Person der beste Beweis gegen die Richtigkeit dieser These? Gab es nicht in ein und derselben Produktionsweise die unterschiedlichsten Bewußtseinsformen, etwa Konservative einerseits, Umstürzler andererseits, um nur die Extreme kurz zu erwähnen? Im 20. Jahrhundert wetteiferten sozialistische, kapitalistische und erheblich unterentwickelte Staaten. Hatten die Menschen ein je eigenes Bewußtsein in moralischer, kultureller, religiöser Hinsicht? War etwa die Arbeitsmoral in den sozialistischen Staaten höher? Falls ja, warum dann die weit geringere Produktivität der Wirtschaft aller Sparten in all diesen Staaten?

Wenn es an der schlechteren Qualität der Werkzeuge gelegen hat, so wird gerade durch diesen Einwand die Marxsche Lehre an einem entscheidenden Punkt widerlegt. Denn nach Marx sollten doch die technisch führenden Staaten zuerst für den Kommunismus reifen. Doch keiner der vorab Berufenen – "England und Amerika" u.a. – hat je diesen Weg eingeschlagen.

Die Fünfstadienlehre hat nicht einmal hinsichtlich der ersten Stadien Weltgeltung, ist vielmehr eurozentriert. Ferner: Wo sind Beweise für die harmonische Urgesellschaft? Auch sie kannte das Eigentum, kannte Kampf und Krieg. In seiner Zeit gab es sowohl Kapitalisten als auch Sklavenhalter, man denke nur an die USA. Entsprechendes gilt für das 20. Jahrhundert (Arbeitslager in der Sowjetunion, im Dritten Reich und zahlreichen anderen Staaten). Weder in der Antike noch irgendwann später konnten sich die Sklaven selbst befreien, obwohl Marx doch behauptet hatte, die Unterdrückten würden – sobald dazu die Zeit reif – ihre Fesseln sprengen.

Bis heute hat keine marxistisch-kommunistische Partei auch nur behauptet, sie habe einen kommunistischen Staat geschaffen. Die Sowjetunion, Jugoslawien, Albanien, VR China, Kuba, Nordkorea, sie alle sprachen (und manche sprechen noch) bescheiden von Sozialismus, entwickeltem Sozialismus, real existierendem Sozialismus und dergleichen. Dabei war der Kommunismus nach Marx schon vor 150 Jahren überfällig.

Die meisten der Staaten, die, wie die DDR, den Weg in den Kommunismus angetreten haben, sind, da ökonomisch gescheitert, zum "Kapitalismus" zurückgekehrt, ein Vorgang, der für Marx wohl gänzlich unvorstellbar gewesen ist und ausreicht, um das von ihm entdeckte "Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte" völlig zu diskreditieren.

 

IV. Die Lehre vom Mehrwert

Marx hat viel geschrieben: Briefe, Aufsätze, Zeitungsartikel, Bücher. Die Bücher sind höchst polemische Auseinandersetzungen mit den Ansichten und den Charakteren einzelner Zeitgenossen und wurden jeweils im Verlaufe weniger Monate verfaßt. Eine Ausnahme bildet Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. An ihm arbeitete Marx über Jahrzehnte hinweg, bis dann 1867 der erste Band erscheinen konnte. (Die Bände 2 und 3 wurden nach seinem Tode von Engels veröffentlicht.)

Das Werk mit seinen mathematischen Formeln und Gleichungen hat – vom Schlußkapitel abgesehen – ein streng wissenschaftliches Gepräge. Der sensationelle Inhalt läßt sich mit wenigen Sätzen skizzieren: Im Kapitalismus geht alles mit rechten Dingen zu. Trotzdem oder gerade deshalb muß und wird es zur Revolution kommen. Zu diesem paradoxen Ergebnis gelangt Marx mit Hilfe seiner objektiven Wertlehre (1.), die er auf die menschliche Arbeitskraft überträgt (2.). Daraus resultiert die gerechte Ausbeutung, die nach Abhilfe schreit (3.).

1. Die objektive Wertlehre

Man unterscheidet allgemein zwischen dem Gebrauchswert einer Ware für den jeweiligen Besitzer und dem Tauschwert. Mit Blick auf den Tauschwert vertrat Marx eine objektive Wertlehre. Danach entspricht der (Tausch-) Wert jeder Handelsware der Zahl der Stunden, die für die Produktion erforderlich gewesen sind: "Rock und Leinwand sind aber nicht nur Werte überhaupt, sondern Werte von bestimmter Größe, und nach unserer Unterstellung ist der Rock doppelt soviel wert als 10 Ellen Leinwand. Woher diese Verschiedenheit ihrer Wertgrößen? Daher, daß die Leinwand nur halb soviel Arbeit enthält als der Rock, so daß zur Produktion des letzteren die Arbeitskraft während doppelt soviel Zeit verausgabt werden muß als zur Produktion der erstern." An die Stelle einer gewöhnlichen Ware kann auch Gold oder Geld treten, ohne daß das Äquivalenzgesetz beeinträchtigt wird.

Der Produzent verkauft seine Ware. Mit dem Erlös kauft er eine andere Ware. Laut Marx vermehrt der Handel sein Vermögen nicht: "Besieht sich der Leinweber nun das Endresultat des Handels, so besitzt er Bibel statt Leinwand, statt seiner ursprünglichen Ware eine andre vom selben Wert, aber verschiedner Nützlichkeit. [Marx arbeitet mit der Formel: Ware – Geld – Ware = W-G-W.] In gleicher Weise eignet er sich seine andren Lebens- und Produktionsmittel an."

2. "Das Geheimnis der Plusmacherei"

Wie kann Reichtum durch Einsatz von Ware oder Geld entstehen, wenn, wie es bei Marx heißt, Gleichwert gegen Gleichwert getauscht wird. Geben wir ihm wieder das Wort: "Der Kapitalist weiß, daß alle Waren, wie lumpig sie immer aussehn oder wie schlecht sie immer riechen, im Glauben und in der Wahrheit Geld, innerlich beschnittne Juden sind und zudem wundertätige Mittel, um aus Geld mehr Geld zu machen." Doch auf welche Weise? Marx: "Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebensowenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen." Ein schier unlösbares Rätsel. Aber Marx löst es: "Um aus dem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehn, müßte unser Geldbesitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre, auf dem Markt, eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markt eine solche spezifische Ware vor – das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft."

Die menschliche Arbeitskraft ist demnach für Marx eine gewöhnliche Ware. Daher bestimmt sich ihr Wert nach der Arbeitszeit, die zur Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft erforderlich ist, angenommen 8 Stunden täglich. Der Mensch kann aber mehr leisten als die erwähnten 8 Stunden. Nehmen wir an 16 Stunden. Die vom Kapitalisten gekaufte Arbeitskraft muß täglich so viele Stunden produzieren, bis die physische Leistungsgrenze erreicht ist, also 16 Stunden. Der Eigentümer der Produkte, der Kapitalist, verkauft die vom Arbeiter produzierte Ware nicht zu den Gestehungskosten der Arbeitskraft, sondern zu ihrem wahren Wert. Die Differenz zwischen den Gestehungskosten und dem Erlös des Kapitalisten für seine Ware Arbeitskraft ist der Mehrwert. (In unserem Falle täglich: 16 Stunden – 8 Stunden = 8 Stunden.)

3. Die gerechte Ausbeutung

"Der Umstand, daß die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken und arbeiten kann, und daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tages schafft, doppelt so groß ist als ihr eigener Tageswert, ist ein besonderes Glück für den Käufer [Kapitalisten], aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer [Proletarier]... Äquivalent wurde gegen Äquivalent ausgetauscht. Der Kapitalist zahlte als Käufer jede Ware zu ihrem Wert, Baumwolle, Spindelmasse, Arbeitskraft." Auch wenn diese Texte geradezu unglaublich klingen, das sind keine Schreibfehler, keine auf Das Kapital beschränkten Entgleisungen, sondern feste Elemente seiner Lehre. Auf den Vorwurf, er sage, der von den Arbeitern allein produzierte Mehrwert verbleibe in ungebührlicher Weise den kapitalistischen Unternehmern, antwortete er: "Nun sage ich das direkte Gegenteil; nämlich, daß die Warenproduktion notwendig auf einem gewissen Punkt zur ‘kapitalistischen’ Warenproduktion wird, und daß nach dem sie beherrschen Wertgesetz der ‘Mehrwert’ dem Kapitalisten gebührt und nicht dem Arbeiter."

Da ein Teil des Mehrwerts nicht konsumiert, sondern investiert wird, wächst das Kapital. Mit der Akkumulation geht die Zentralisation Hand in Hand. Sie bewirken, daß immer weniger immer reicher, immer mehr immer ärmer werden.

Gegen Ende des Buches wird das vorher Gesagte mit fanatischen Worten geradezu auf den Kopf gestellt. Der Kapitalist, der jede Ware zu ihrem wahren Wert gekauft, also niemanden übervorteilt hat, und der sie zu ihrem wahren Wert verkauft, erscheint nun plötzlich als Vampir: "Die Expropriation der unmittelbaren Produzenten [Proletarier] wird mit schonungslosestem Vandalismus und unter dem Trieb der infamsten, schmutzigsten, kleinlichst gehässigsten Leidenschaften vollbracht." Schon weiter oben heißt es im Kapital: "Die Rate des Mehrwerts ist daher der exakte Ausdruck für den Exploitationsgrad der Arbeitskraft durch das Kapital oder des Arbeiters durch die Kapitalisten." Der "Vernichter" (s. VI.) ist ganz in seinem Element: "Auf einem gewissen Höhegrad bringt sie [die kapitalistische Produktionsweise] die materiellen Mittel ihrer eignen Vernichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im Gesellschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen. Sie muß vernichtet werden, sie wird vernichtet."

4. Stellungnahme

In einer seiner zahlreichen Besprechungen von Das Kapital urteilt Engels: "Das Verhältnis von Kapital und Arbeit, die Angel, um die sich unser ganzes heutiges Gesellschaftssystem dreht, ist hier zum ersten Mal wissenschaftlich entwickelt, und das mit einer Gründlichkeit und Schärfe, wie sie nur einem Deutschen möglich war." Chauvinismus hin oder her; können wir Deutschen auf dieses Werk stolz sein? Die Antwort ist ein klares Nein, und das aus folgenden Gründen:

Gekauft und verkauft wird nicht nach einem errechneten objektiven Wert, sondern ausschließlich nach subjektiver Wertschätzung, wobei sich die Kaufvertragsparteien zwar auf den Preis einigen, aber den Vertrag nur deshalb schließen, weil dem Verkäufer die Ware weniger Wert ist als die Gegenleistung, das Geld, dem Käufer aber mehr. Da die objektive Wertlehre handgreiflich falsch ist, heute deshalb auch keine Vertreter mehr findet, ist es müßig, sie ausführlich zu widerlegen. Nie galt sie auch nur vorübergehend im Alltag eines der sozialistischen Staaten. Damit fällt die Mehrwertlehre wie ein Kartenhaus in sich zusammen und zugleich Marxens ganzes Gedankengebäude.

Noch abwegiger ist die Übertragung der Arbeitswerttheorie auf die menschliche Arbeitskraft. Wer könnte berechnen, wie viele Stunden in die Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft investiert worden sind? Das mag bei einer Leinwand, um Marxens Beispiel aufzugreifen, gerade noch möglich sein, ganz unmöglich aber schon bei einem Buch, weiß doch niemand, wie viele Käufer es findet, wie also die Arbeitszeit umzulegen ist. Welchem der möglicherweise zahlreichen Arbeitgeber sollen die "Produktionskosten" des Arbeiters (die von den Eltern investierten Stunden) aufgebürdet werden?

Die Behauptung, der Unternehmer kaufe die Arbeitskraft des ganzen Tages und der Arbeiter habe keinen Einfluß auf die Länge seiner tatsächlichen Inanspruchnahme, ist für den realitätsnahen Leser eine ungeheure Zumutung. Längst gab es in England, wo Marx Das Kapital schrieb, gesetzliche Arbeitszeitregelungen, die zugunsten der Arbeiter zu seinen Lebzeiten verbessert wurden. Sie standen nicht nur auf dem Papier. Kommissare des Unterhauses, sogenannte Fabrikinspektoren, wachten über die Einhaltung der Bestimmungen. Daß insofern gar keine dauernde Verbesserung möglich sein sollte, ist eine nicht minder große Zumutung. Man braucht sich nur die Entwicklung von damals bis heute zu vergegenwärtigen, grob gesprochen von 72 auf 36 Stunden wöchentlich.

Wären nur Investitionen in Arbeitskraft, nicht jedoch in Arbeitsgerät und Rohstoffe, mehrwertschaffend, würde jedermann tunlichst in arbeitsintensiven Unternehmen sein Geld anlegen. Doch derlei Beobachtungen gibt es nicht.

Der Haupteinwand lautet jedoch, warum die überaus heftigen Vorwürfe an die Adresse der Kapitalisten, wenn sie, einem ehernen Gesetz folgend, den gerechten Lohn bezahlen und gar nicht anders handeln können?

Ferner: Warum füllt Marx mit dem Stoff, der sich auf wenigen Seiten darstellen läßt, ein dickes Buch (950 Seiten), das nicht zuletzt wegen unendlicher Wiederholungen langweilt, ja geradezu ungenießbar ist? Die Antwort, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, entnehmen wir einem Brief an Engels: "Ich dehne diesen Band mehr aus, da die deutschen Hunde den Wert der Bücher nach dem Kubikinhalt schätzen." Engels hatte ihn aufgefordert: "Die Hauptsache ist, daß Du erst wieder mit einem dicken Buch vor dem Publikum debütierst..."

War sich Marx der Tatsache bewußt, daß seine angebliche Entdeckung keiner Nachprüfung standhält? Vieles spricht dafür, so seine Leidenschaft für die Börse. Ihm mußte doch klar sein, daß der Kurs der Aktien von höchst subjektiven Wertungen abhängt und nicht von real investierten Arbeiterstunden. Ferner die geschichtliche Entwicklung auf praktisch allen Gebieten: Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, Evolution statt Revolution.

Vor allem spricht der Ekel Bände, den er empfand, wenn er an sein Werk dachte. Jeder halbwegs normale Autor, der glaubt, er habe etwas Wichtiges mitzuteilen, drängt ungeduldig auf die Veröffentlichung. Er aber begrüßte, wie Engels berichtet, jeden Vorwand, der eine Verzögerung des lange Angekündigten rechtfertigte und nannte es mehrmals "das ‘verdammte’ Buch", "Alp", "Saubuch", "Scheiße" und "ökonomische Scheiße". – Verrät ein solches Empfinden nicht, daß da etwas faul ist, in der Sache, in der Psyche des Autors oder in beidem!

Engels sollte für eine Zeitung ein Resümee verfassen. Er gestand: "Es ist verdammt schwer, die dialektische Methode dem Revue lesenden Engländer klarzumachen, und mit den Gleichungen W – G – W [Ware – Geld – Ware] etc. kann ich doch dem Mob nicht kommen." Marx selbst ist es, der die Kritik bestätigt, die sich den gründlichen Lesern seiner Werke aufdrängt: Mysterien einerseits, Gemeinplätze andererseits in schwülstige Worte verpackt. Der Autor: "Der Pseudocharakter macht die Sache (die an sich = 0) keineswegs leicht verständlich. Umgekehrt. Die Kunst besteht darin, den Leser so zu mystifizieren und ihm Kopfzerbrechen zu verursachen, damit er schließlich zu seiner Beruhigung entdeckt, daß diese hard words [schwerverständlichen Wörter] nur Maskeraden von loci communes [Gemeinplätzen] sind."


V. Der Revolutionär

Marx war, wie Engels hervorhebt, ein leidenschaftlicher Revolutionär, der sein Denken und Tun ganz in den Dienst dieser Leidenschaft stellte. Die beiden vorausgegangenen Kapitel beweisen das. "Das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte" führt nach Marxens Prognosen unweigerlich in die proletarische Revolution, bevor das Morgenrot einer ganz neuen Zeit anbricht. Was im Rahmen des historischen Materialismus ohne nähere Begründung bleibt, verdeutlicht Das Kapital. Doch warum konstruierte Marx eine Nationalökonomie, die "beweist", daß der Proletarier im Kapitalismus den gerechten Lohn erhält? Goß er damit nicht Wasser auf die Mühlen seiner Gegner, der Kapitalisten?

Was zunächst unglaublich, zumindest höchst paradox klingt, findet unschwer eine simple Erklärung: Marx betrieb, wie er schon im Manifest der kommunistischen Partei (1848) bekannte, den "gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung." Indem er behauptete, die Proletarier erhielten im Kapitalismus den gerechten Lohn, und gleichzeitig die Zustände als äußerst beklagenswert schilderte, zeigte er seinen Anhängern den einzigen Ausweg aus der Misere, die Revolution, da mehr als eine gerechte Entlohnung nicht zu erwarten, wohl gar nicht möglich sei. Der totale Umsturz habe eine gänzlich andere Produktionsweise zur Folge, eben den Sozialismus/Kommunismus mit der Abschaffung des Eigentums überhaupt, zumindest an den Produktionsmitteln, mit der Aufhebung des Geldes und der Warenproduktion zu Tauschzwecken.

Diese Kritik an Marx ist nicht neu, wurde schon zu seinen Lebzeiten geäußert und von Engels zusammengestellt: daß Marx "sich nicht aufhalten ließ durch falsche Schlüsse, wohl wissend, daß sie falsch waren", daß "er oftmals ein Sophist war, der auf Kosten der Wahrheit bei der Negation der bestehenden Gesellschaft ankommen wollte", und daß "er mit Lügen und Wahrheiten spielte wie Kinder mit Knöcheln". Das war, wie erwähnt, zeitgenössische Kritik an Marx, die leider in Vergessenheit geraten ist.

Marx machte sich auch Gedanken über die Voraussetzungen einer Revolution und kam zu der Einsicht: "Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten... Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese." Also war Marx von heißer Krisensehnsucht erfüllt und brachte sie auch immer wieder zum Ausdruck mit Worten wie: "Indes gärt und kocht es offenbar, und nur zu wünschen, daß große Unglücksfälle in der Krim den Ausschlag geben." "Die amerikanische Krise ... ist beautiful." "Die Hunde von Demokraten und liberalen Lumpen werden sehn, daß wir die einzigen Kerls sind, die nicht verdummt sind in der schauderhaften Friedensperiode." Frau Jenny veranschaulichte diese Einstellung in einem Brief: "Nicht wahr, an dem allgemeinen Krach und Zusammenrumpeln des alten Drecks hat man doch noch eine Freude... Obgleich wir die amerikanische Krise an unserm Beutel sehr verspüren..., so können Sie sich doch wohl denken, wie high up [glücklich beschwingt] der Mohr [Spitzname für Marx] ist. Seine ganze frühere Arbeitsfähigkeit und Leichtigkeit ist wiedergekehrt sowie auch die Frische und Heiterkeit des Geistes, die seit Jahren gebrochen war".


VI. War Humanismus die Triebfeder des Denkens und Handelns?

Diese und zahlreiche ähnliche Äußerungen machen stutzig, provozieren die Frage nach den Antriebskräften, die das Denken und Handeln des namhaftesten Kommunisten bestimmten. Auch die heiße revolutionäre Sehnsucht, die ihm offenbar seine Theorien und "Gesetze" eingab, lassen Ausschau halten nach den Motiven, die ihn bestimmten. Typisch ist die Betrachtungsweise, die der namhafte Jesuit Oswald von Nell-Breuning vertrat: "Hatte man bis dahin [gemeint ist 1932, das Jahr, in dem die sogenannten Frühschriften veröffentlicht wurden] nur den grimmigen Kämpfer und Hasser, den eiskalten Denker, der zugleich ein glühender Revolutionär war, gekannt, so lernte man zu seiner Überraschung jetzt einen anderen, ganz von Menschlichkeit bestimmten Marx kennen, einen Mann, dem es um den Menschen ging, um die Menschenwürde und die menschenwürdige Behandlung eines jeden, der Menschenantlitz trägt." Mit diesem begeisternden Urteil steht der Gottesmann nicht allein; zahlreiche namhafte Persönlichkeiten stoßen ins gleiche Horn. Sir Karl Popper nennt in seinem berühmten, weltweit verbreiteten Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde – allein sieben deutsche Auflagen – den Marxismus "eine wahrhaft humanitäre Bewegung" und fügt hinzu, es "kann doch über den humanitären Impuls des Marxismus kein Zweifel bestehen." "Humanität und Anstand waren für ihn [Marx] Voraussetzungen, die keiner Diskussion bedurften, die einfach hinzunehmen waren."

Was kann zugunsten des "ganz von Menschlichkeit bestimmten" Marx vorgebracht werden? Von Nell-Breuning gab zur Antwort: "... den vorstehenden Ausführungen liegen keine Texte oder Meinungsäußerungen von Marx zugrunde, sondern nur heute allgemein verbreitete Erkenntnisse und Denkweisen..." Auch Sir Karl Popper trat für die Richtigkeit seiner Ansicht keinerlei Beweis an. Andere, wie Richard von Weizsäcker und seine Gewährsleute, zitieren ausschließlich den Marxschen "kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist..."

Diese Äußerung legt in der Tat die Annahme nahe, humanitäre Impulse hätten eine maßgebliche Rolle gespielt. Aber wir wissen weit mehr über den jungen Marx und müssen daher, den geradezu selbstverständlichen Regeln jedweder Wissenschaft folgend, auch die anderen Fakten und Texte berücksichtigen. Schon aus räumlichen Gründen soll nur der junge Marx näher betrachtet werden, zumal gerade er es ist, dem Mitleid mit der geschundenen Kreatur nachgesagt wird. So spricht Iring Fetscher von dem "aus besten europäischen Traditionen gespeisten Humanismus des jungen Marx." "Hoffnung und Wille zur Vermenschlichung der unmenschlichen Welt" seien "die ursprünglichen Triebfedern dieses Denkens und Handelns gewesen." (Auch ich habe in meiner ersten einschlägigen Buchpublikation diese Ansicht geteilt.) Als Zäsur bietet sich das Jahr 1843 an. Marx wurde in ihm 25 Jahre alt. Zu dieser Zeit erfolgte auch seine Hinwendung zum Kommunismus.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Der Relativsatz "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ... ein erniedrigtes Wesen ist" (Hervorhebung K.L.) spielt praktisch keine Rolle. Solche "Verhältnisse" waren für ihn der Staat ganz allgemein und jede Religion, waren die bürgerliche Gesellschaft und das Judentum, waren die Rechtsordnung, insbesondere das Privateigentum, waren Ehe und Familie. Doch die Kampfansage an die alte Welt präzisiert sich erst allmählich. Den Ausgangspunkt bilden maßloses Selbstbewußtsein gepaart mit der Verachtung alles Vorgefundenen.

1. Der Abituraufsatz in Deutsch

Über den Schüler Karl lesen wir bei Eleanor, der jüngsten Marxtochter: "Meine Tanten haben mir oft erzählt, daß Mohr [Kosename für Karl] als Junge ein schrecklicher Tyrann war; er zwang sie, im vollen Galopp den Markusberg zu Trier hinunterzukutschieren, und was noch schlimmer war, er bestand darauf, daß sie die Kuchen äßen, welche er mit schmutzigen Händen aus noch schmutzigerem Teige selbst verfertigte. Aber sie ließen sich dies alles ohne Widerrede gefallen, denn Karl erzählte ihnen zur Belohnung so wundervolle Geschichten." Für sich allein genommen ist dieser Bericht ohne nennenswerte Aussagekraft. Er stammt aus zweiter Hand und wurde erst rund 70 Jahre nach dem geschilderten Sachverhalt aufgezeichnet. Andererseits, wenn er nicht den Tatsachen entsprechen sollte, so entspricht er doch offenbar den Vorstellungen, die sich damals schon nächste Angehörige von ihm machten: zu Gewalt neigende Herrschsucht; Verachtung der dummen Diener, die er mit schönen Geschichten betören kann.

Das erste uns überlieferte Schriftstück aus Karls Feder verdanken wir einer bewundernswerten Aufbewahrungspraxis. Alle Trierer Abiturarbeiten des Jahres 1835, auch die der Klassenkameraden, sind erhalten. Der Schulleiter, Herr Wyttenbach, kannte wohl vorab das Thema in Deutsch: "Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes". Er bleute den Schülern rechtzeitig ein, nicht nur an die eigenen Belange zu denken. Daher ist in allen Arbeiten auch von der Verantwortung für das Gemeinwohl die Rede. Karls Aufsatz weist jedoch zwei Besonderheiten auf:

Er gebraucht sechsmal das Wort "vernichten", während es in keinem Aufsatz der Mitschüler auch nur einmal Verwendung findet. Diese Vorliebe für "Vernichten" erklärt, warum ihn etwas später ein ehemaliger Mitstreiter den "Vernichter" taufte.

Ferner meint Karl, wir sollten den Stand anstreben, "der uns die größte Würde gewährt". Dagegen ist nichts einzuwenden, jedoch gegen seine anschließende Definition von Würde: "Die Würde ist dasjenige, was den Mann am meisten erhebt, was seinem Handeln, allen seinen Bestrebungen, einen höheren Adel leiht, was ihn unangetastet, von der Menge bewundert und über sie erhaben dastehn läßt." Beide Besonderheiten legen den Verdacht nahe, daß er sich selbst maßlos überschätzt und andere als minderwertig eingestuft hat. Kein geringerer als Heinrich Heine hat ihn und seinesgleichen als "gottlose Selbstgötter" charakterisiert. Wir werden sehen, daß Marx im späteren Leben diese Beurteilungen als "Selbstgott" und "Vernichter" auf vielfältige Weise durch sein Wort und sein Verhalten bestätigt hat.

2. Die Jugendgedichte des Studenten

Als Student in Bonn, dann in Berlin verfaßte Marx – er ist nun um die 20 Jahre alt – 150 nach allgemeiner Ansicht literarisch wertlose Jugendgedichte. Als Spiegelbild seiner Seele, als Schlüssel zu seinen Motiven sind sie wahre Fundgruben. Sie geben Einblick in die Zerrissenheit des Studenten, seinen Haß auf alles und jeden, seine Selbstvergottung. Dabei immer wieder "Vernichtung", "Vernichtung". (Mahatma Gandhi: "Haß führt in die Vernichtung.") So erklärt sich, daß keines der Gedichte in eines der zahlreichen Schulbücher der "Deutschen Demokratischen Republik" Aufnahme fand, obwohl er in diesem Lande als "größter Sohn des deutschen Volkes" gefeiert wurde. Hier eine kleine Auswahl:

"Wunsch

Könnt’ ich die Seele sterbend tauchen
In der Vernichtung Ocean,
Mit einem Hauch das Herz verhauchen,
Verhauchen seinen Schmerz und Wahn!...
Ich will euch nicht ihr Ewigkeiten,
nicht euer schwindelnd, riesig Reich,
In der Vernichtung Arm, dem breiten,
Küßt Todeshauch mich mild und weich."

"Des Verzweifelten Gebet ...

Einen Thron will ich mir auferbauen,
Kalt und riesig soll sein Gipfel sein,
Bollwerk sei ihm übermenschlich Grauen,
Und sein Marschall sei die düstr’e Pein!"
"Menschenstolz ...
Götterähnlich darf ich wandeln,
Siegreich ziehn durch ihr ruinenreich,
Jedes Wort ist Glut und Handeln,
Meine Brust dem Schöpferbusen gleich."

3. Die Dissertation

Mit einer Dissertation über die Differenz der demokritischen und epikuräischen Naturphilosophie beendet er sein Studium. Die Vorrede dazu, die er wohl erst nach Abschluß des Verfahrens hinzugefügt hat, ist ein weiteres Dokument für die eingangs aufgestellte Vermutung, nämlich daß Marx maßlos selbstbewußt und voll Verachtung für andere gewesen sei. Dabei waren seine schulischen Leistungen nur gut durchschnittlich, an den Universitäten Bonn und Berlin entzog er sich jedem größeren Leistungsnachweis. Jena, wo er seine Dissertation einreichte, suchte er nie auf, legte also auch kein Rigorosum ab. Die ganze Prozedur ging unter recht fragwürdigen Umständen vor sich. Dennoch prahlt er, als habe er die Welt aus den Angeln gehoben, zumindest das Feuer auf die Erde gebracht:

"Die Form dieser Abhandlung würde einesteils streng wissenschaftlicher, andererseits in manchen Ausführungen minder pedantisch gehalten sein, wäre nicht ihre primitive Bestimmung die einer Doktordissertation gewesen...

Sachverständige wissen, daß für den Gegenstand dieser Abhandlung keine irgendwie brauchbaren Vorarbeiten existieren. Was Cicero und Plutarch geschwatzt haben, ist bis auf die heutige Stunde nachgeschwatzt worden."

Im Text selbst begegnen wir Sätzen wie: "Die Philosophie [richtig müßte es heißen: Der Philosoph Marx] verheimlicht es nicht. Das Bekenntnis des Prometheus: Geradheraus: Die Götter haß’ ich allesamt ist ihr eigenes Bekenntnis, ihr eigener Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen."

4. Aus Artikeln

Bereits 1842 wurde Marx mit der Leitung der Rheinischen Zeitung betraut, die Ende 1841 Kölner Industrielle und Liberale gegründet hatten. Der strengen Zensur wegen verließ er nach wenigen Monaten das Blatt, dem wenig später die Lizenz entzogen wurde. Höchst bezeichnend, wie er sich verabschiedete. Unter dem Namen Karl Grün verfaßte er ein Selbstporträt, das in der Mannheimer Abendzeitung erschienen ist und ihn wieder als Selbstgott und Vernichter ausweist:

"Dr. Marx ist wohl derjenige der Redaktoren, welcher dem Blatte die entschiedene Färbung gab... Die Leser ... erinnern sich noch gar wohl des scharfen inzisiven Verstandes, der wahrhaft bewunderungswürdigen Dialektik, womit der Verfasser sich in die hohlen Äußerungen der Abgeordneten gleichsam hineinfraß, und sie dann von innen heraus vernichtete: nicht oft ward der kritische Verstand in solcher zerstörungslustigen Virtuosität gesehen, nie hat er glänzender seinen Haß gegen das sogenannte Positive gezeigt, dasselbe so in seinen eigenen Netzen gefangen und erdrückt."

Später erinnert sich Engels an die Absichten von damals und bestätigt das Gesagte: "Der Kampf wurde noch mit philosophischen Waffen geführt, aber nicht mehr um abstrakt-philosophische Ziele; es handelte sich direkt um Vernichtung der überlieferten Religion und des bestehenden Staats."

1843 verfaßt Marx zwei Essays. Einer trägt den Titel: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In ihm begegnen wir dem immer wieder zitierten "kategorischen Imperativ" als Teil eines längeren Satzes. Aufschlußreich ist, daß Marx die Worte "alle Verhältnisse umzuwerfen" unterstrichen hat, was geflissentlich nicht erwähnt wird, während die Klage über die Erniedrigung des Menschen ohne diese Betonung geblieben ist, ein Indiz dafür, daß es dem "Vernichter" vor allem eben darum ging, "alle Verhältnisse umzuwerfen", Revolution zu machen und die Berufung auf die Notlage weiter Kreise der Bevölkerung nur der Beschönigung dienen sollte.

Dafür sprechen auch zahlreiche andere Passagen des Artikels, beispielsweise: "Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehn unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik, wie der Verbrecher, der unter dem Niveau der Humanität steht, ein Gegenstand des Scharfrichters bleibt. Mit ihnen im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will." – Welch Ausbruch von Überheblichkeit und Brutalität! – Und dann noch ein Satz aus dieser Veröffentlichung, der uns zeigt, auf welcher Höhe Marx sich wähnt, von der herab er gnädigst die Deutschen zu Menschen zu machen geruht: "Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen." Mit anderen Worten: um mächtig zu sein, braucht der Philosoph eine Waffe. Er findet sie in Gestalt einer Menschenmasse, in Gestalt des Proletariats. Und das Proletariat vermag nichts, es sei denn, daß sich ein Philosoph seiner erbarmt, es befruchtet. Das ist der Schlüsseltext zum Verständnis von Marx. Nicht aus Mitleid wendet er sich dem Proletariat zu, sondern um sich viele starke Arme dienstbar zu machen.

In dem Aufsatz Zur Judenfrage, im selben Jahr verfaßt, muß das Volk, aus dem er hervorgegangen ist, die härtesten Schmähungen einstecken. Abschließend heißt es: "Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muß." Vorab kommt in dem Aufsatz die Sprache auf den Staat und die Elemente, aus denen er sich zusammensetzt. Doch wo das Wort "Menschen" stehen müßte, steht bei Marx "Menschenkehricht" Auch später vergreift er sich auf diese demaskierende Weise im Ausdruck.. Ist es vorstellbar, daß ein Menschenfreund so abscheulich sprachlich entgleist? Was hat er nur für ein Menschenbild? Dem "Menschenkehricht" entsprechen die "Völkerabfälle".

5. Aus Briefen

Die Zahl der uns aus dieser Zeit (bis Ende 1843) überlieferten Briefe ist relativ gering. Trotzdem finden sich auch hier aufschlußreiche Indizien, um die in Marx wirksamen Antriebskräfte bloßzulegen. Aus dem Aufsatz Zur Judenfrage wurde eben zitiert. Zu seiner Vorgeschichte gehört, was Marx in einem Brief vom 13. März 1843 mitteilt: "Soeben kömmt der Vorsteher der hiesigen Israeliten zu mir und ersucht mich um eine Petition für die Juden an den Landtag, und ich will’s tun. So widerlich mir der israelitische Glaube ist, so scheint mir Bauers Ansicht doch zu abstrakt." Hier wird das Zitat meist abgebrochen. Aber erst der folgende Satz verrät das Handlungsmotiv: "Es gilt soviel Löcher in den christlichen Staat zu stoßen als möglich und das Vernünftige, soviel an uns, einzuschmuggeln."

Im Mai 1843 schreibt Marx an seinen damaligen Freund Arnold Ruge: "Laßt die Toten ihre Toten begraben und beklagen. Dagegen ist es beneidenswert die ersten zu sein, die lebendig ins neue Leben eingehen; dies soll unser Los sein." Dieser auf die eigene Person gemünzten Feststellung, einer der ersten zu sein, folgt die "rücksichtslose Kritik alles Bestehenden": "Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebenso wenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten."

6. Der arme Prasser

Marx, der als Philosoph das à Geld abschaffen wollte, konnte als Alltagsmensch nie genug davon haben. Das wäre keine bemerkenswerte Auffälligkeit, hätte er insofern als Student nicht alle Kommilitonen übertroffen. Da er nicht über eigene Einnahmen verfügte, mußte er sich Geld beschaffen. Dabei legte er eine Rücksichtslosigkeit an den Tag, die schier maßlosen Egoismus offenbarte. Die ersten Belege dafür verdanken wir seinem Vater, Heinrich Marx, der sich liebevoll um den zu besten Hoffnungen berechtigenden Sohn sorgte, diese und andere Charaktermängel jedoch recht anschaulich tadelte. Hier vier Kostproben, aus jedem Jahr eine:

18. November 1835

"Lieber Karl!

Über drei Wochen sind verflossen, daß Du weg bist, und keine Spur von Dir! Du kennst Deine Mutter und ihre Ängstlichkeit, und dennoch diese grenzenlose Nachlässigkeit! Das bestätigt mir leider nur zu sehr die Meinung, welche ich trotz Deiner mancher guten Eigenschaft hege, daß der Egoismus in Deinem Herzen vorherrschend ist." Ähnliche Klagen werden in den 15 überlieferten Briefen immer häufiger.

19. März 1836: "...Wenn Du daher etwas über die Schnur gehauen hast, so mag es, weil es muß, verschleiert werden. Aber ich versichere Dich, ‘das nec plus ultra’ [Nicht-darüber-hinaus] ist das Ausgeworfene."

9. Dezember 1837: "Als wären wir Goldmännchen verfügt der Herr Sohn in einem Jahre für beinahe 700 Taler gegen alle Abrede, gegen alle Gebräuche, während die Reichsten keine 500 ausgeben... Auch Klagen Deiner Geschwister habe ich nachzutragen. Kaum sieht man in Deinen Briefen, daß Du deren hast; und die gute Sophie [Schwester von Karl], die für Dich und Jenny so viel gelitten, und die so überschwänglich ergeben ist, Du denkst ihrer nicht, wenn Du sie nicht bedarfst." Im letzten Brief des todkranken Vaters, 10. Februar 1838, lesen wir: "So sind wir jetzt im vierten Monat des Justizjahres, und schon hast Du 280 Taler gezogen. So viel hab’ ich diesen Winter noch nicht verdient." Etwas früher schon finden sich die bitteren Worte: "Ich will und muß Dir sagen, daß Du Deinen Eltern viel Verdruß gemacht und wenig oder gar keine Freude."

Im Todesjahr des Vaters schlägt der Studiosus noch ganz andere pekuniäre Kapriolen. Aus Dokumenten, die erst vor wenigen Jahren veröffentlicht worden sind, geht hervor, daß er sich – der Selbsteinschätzung gemäß – offenbar anschickte, den Lebensstil des Sonnenkönigs zu imitieren: "Da das Universitätsgericht damals auch für Zivilklagen gegen Studenten zuständig war, wurden von Handwerkern und Kaufleuten Klagen wegen Zahlung für gelieferte Waren und Dienstleistungen gegen Marx erhoben. So forderte Anfang September 1838 der Schneidermeister Kremling für die Anfertigung von Kleidungsstücken 40 Taler, zweieinhalb Groschen... Anfang Oktober 1838 machte der Schneidermeister Selle für die Anfertigung für Oberbekleidung 41 Taler 10 Groschen geltend. Zu demselben Zeitpunkt machte Kremling wieder eine Forderung von 30 Talern geltend, die mit der Bemerkung ‘Execution schwebt noch’ gemeldet wurde... Mitte November 1838 reichte Selle ein Vollstreckungsgesuch wegen der Forderung von 10 Talern ein..." Allein mit diesen Beträgen hatte eine vierköpfige Familie ein Jahr leben können.

Die verwitwete Mutter war nicht bereit, zu Lasten der sechs anderen unversorgten Kinder Karls luxuriösen Lebenswandel zu finanzieren. So wurde sie zur "Alten", die er nur noch um Geld anging, die er, falls sie nicht freiwillig zahlte, regelrecht kriminell erpreßte, und der er gar den Tod wünschte. Auf der Suche nach Geld macht er später Freund Engels zu seinem Komplizen. "Dein Alter ist ein Schweinhund, dem wir einen hundsgroben Brief schreiben werden." "Ich habe einen sichern Plan entworfen, Deinem Alten Geld auszupressen, da wir jetzt keins haben. Schreib einen Geldbrief (möglichst kraß an mich), worin Du Deine bisherigen Fata erzählst, aber so, daß ich ihn Deiner Mutter mitteilen kann. Der Alte fängt an, Furcht zu bekommen."

Die Rücksichtslosigkeit, die aus seinen Theorien spricht, war also nicht nur philosophische Marotte, sondern Lebensmaxime eines Egomanen, die sich immer und immer wieder bis zum Tode manifestierte und die für die eingangs zitierten Lobsprüche nicht den geringsten Raum läßt.

Zu dieser Einsicht gelangte spät auch Karl Popper. In der letzten Auflage des erwähnten Buches heißt es: "Mehr als 20 Jahre, nachdem ich dieses Buch schrieb, wurde mir Leopold Schwarzschilds Buch über Marx, Der rote Preuße, bekannt. Schwarzschild betrachtet Marx mit teilnahmslosen und sogar feindlichen Augen, und er stellt ihn immer als einen unsympathischen Menschen hin... Schwarzschild beschreibt ihn als einen Mann, für den das ‘Proletariat’ bloß ein Instrument war, um seinen persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Obgleich das vielleicht die Sache härter ausdrückt, als es das Beweismaterial zuläßt, so muß doch zugestanden werden, daß Schwarzschilds Beweismaterial niederschmetternd ist." Die Berichtigung beweist, daß Popper sein Loblied ohne genauere Sachkenntnis angestimmt und es zunächst gewagt hat, jede kritische Anfrage von vornherein als indiskutabel abzuschmettern (wörtlich: "...kann doch über den humanitären Impuls des Marxismus kein Zweifel bestehen").

Diese Zusammenstellung einschlägiger Texte und Fakten aus dem Leben des jungen Marx dürfte jedermann in die Lage versetzen, die eingangs aufgeworfene Frage, ob sich bei ihm Spuren edler Menschlichkeit entdecken lassen, ob Mitleid ihn gar zum Kommunismus gedrängt hat, selbst zu beantworten. Ganz realistisch stellt Engels fest: "... die Deutschen wurden philosophisch zu Kommunisten, durch Schlußfolgerungen aus ersten Prinzipien." Daß er dabei in erster Linie an seinen Freund dachte, steht außer Zweifel. Dem "älteren", kommunistischen Marx (ab dem 26. Lebensjahre) werden ohnehin keine humanitären Anwandlungen angedichtet. Auch wenn die jeweiligen Motive der Menschen letztlich ein Geheimnis bleiben, so können wir gleichwohl mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit gefühlskalten Messianismus als Triebfeder seines Handelns diagnostizieren.

Bereits im Februar 1849 kam der kommunistische Kampfgefährte Andreas Gottschalk zum selben Ergebnis: "Das Elend des Arbeiters, der Hunger des Armen hat für Sie [Karl Marx] nur ein wissenschaftliches, ein doktrinäres Interesse. Sie sind erhaben über solche Miseren. Als gelehrter Sonnengott bescheinen Sie bloß die Parteien. Die sind nicht ergriffen von dem, was die Herzen der Menschen bewegt."


VII. Wie erklärt sich der Erfolg?

Alle Staaten, die sich zum Marxismus bekannt haben und auch jene, die sich noch dazu bekennen, sind gescheitert, haben zumindest ihre Attraktivität gänzlich eingebüßt. Lag es daran, daß sie Marxens Vorgaben nicht befolgt haben, oder sind sie gerade wegen ihrer Marxgläubigkeit in Schwierigkeiten geraten?

Die überraschende Antwort lautet: Der allgemein als erster Klassiker des Kommunismus anerkannte Marx hat sich mit "Kommunismus" kaum befaßt, hat die heile kommunistische Welt nicht näher beschrieben. Die wenigen konkreten Weisungen, die wir insbesondere im Manifest der Kommunistischen Partei finden, versuchten Lenin und seine Gefolgschaft, ebenso die Kommunisten der anderen Staaten, in die Tat umzusetzen. Sie lauten:

"Für die fortgeschrittensten Länder werden jedoch die folgenden [Maßregeln] ziemlich allgemein in Anwendung kommen können: 1. Expropriation des Grundeigentums... 2. Starke Progressivsteuer. 3. Abschaffung des Erbrechts. 4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen."

Auch sonst hält der Marxismus nicht, was er verspricht. Das gilt für den historischen Materialismus ebenso wie für die Kritik des Kapitalismus. Selbstverständlich war nicht alles falsch, was Marx und Engels niedergeschrieben haben. Aber das Richtige war nicht neu und das Neue war nicht richtig. Der Beweis des Gegenteils wurde nie angetreten. Trotzdem der Siegeszug des Marxismus!

1917 kamen erstmals marxistische Kommunisten an die Macht, und zwar in Rußland. Sie mißachteten die Ergebnisse freier Wahlen, trugen die junge Demokratie zu Grabe, zerbrachen jeden Widerstand der Opposition mit äußerster Brutalität, traten die primitivsten Grundsätze rechtsstaatlicher Ordnung mit Füßen, ermordeten Hunderttausende Unschuldiger. Dennoch schlugen Dutzende von Staaten den gleichen Weg ein, schworen auf den Marxismus, den Marxismus-Leninismus, den Marxismus-Leninismus-Stalinismus oder -Maoismus, viele unter massivem Druck, andere ohne äußeren Zwang wie Jugoslawien und Albanien in Europa, China und Nordkorea in Asien, Angola und Mosambik in Afrika, Kuba und Nicaragua in Amerika. Wie war dies möglich?

Als Gorbatschow 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt wurde, lebte ein Drittel der Menschheit in Staaten, die auf den Marxismus-Leninismus eingeschworen waren. Auch außerhalb gab es Millionen, die – trotz allem – Marx und Lenin verehrten, die sich unter ihre geistige Führung stellten.

Auch die historische Gestalt von Marx liefert keine Erklärung für den Erfolg. Marx war bei denen, die ihn näher kannten, ziemlich unbeliebt. Von den meisten seiner Kampfgenossen hatte er sich im Streit getrennt. Die Bande zu Mutter und Geschwister hatte er fast gänzlich zerrissen, seine Frau äußerte kurz vor ihrem Tode, sie sei angewidert vom ganzen männlichen Geschlecht, als Marx in der Millionenstadt London starb, gab ihm nur ein Dutzend das letzte Geleit. Und trotzdem der Erfolg. Welches sind die Hauptgründe dafür?

1. Die Dialektik?

Anläßlich des einhundertsten Todestages von Marx wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung genau diese Frage nach den Gründen des Erfolgs aufgeworfen. Die Antwort dort: "Vielleicht und vor allem durch einen Begriff, von dem Zauberkraft ausstrahlt: Dialektik. Dialektik meint Bewegung im Dreischritt." Erinnert sei an "Position", "Negation", "Negation der Negation". Engels erläutert: "Die Dialektik ist aber weiter nichts als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens". Wenn dem so wäre, würden wir dem Gesetz auf Schritt und Tritt begegnen. Aber die Beispiele, die Engels in seinem Antidühring dem Leser zumutet, sind so handgreiflich falsch, daß sie nicht Gegenstand einer ernsthaften Prüfung sein können, etwa wenn er behauptet: "...findet so ein Gerstenkorn die für es normalen Bedingungen vor, fällt es auf günstigen Boden, so geht unter dem Einfluß der Wärme und der Feuchtigkeit eine eigne Veränderung mit ihm vor, es keimt; das Korn vergeht als solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die aus ihm entstandne Pflanze, die Negation des Korns."

Nein, das angebliche Gesetz ist nirgendwo nachweisbar, ist indiskutabel. Aber die Worte "Dialektik" und "Dialektischer Materialismus" haben in den Ohren vieler einen geheimnisvoll fesselnden Klang. Und in der Tat, die in diesem Zusammenhang gebrauchten Begriffe und behaupteten Gesetze sind ein wertvolles Instrumentarium in den Händen Skrupelloser, um immer recht zu behalten, auch wenn sie sich noch so sehr geirrt haben. Dessen war sich Marx bewußt und er hat es auch mehrmals eingestanden, so in einem Brief an Engels: "Es ist möglich, daß ich mich blamiere. Indes ist dann immer mit einiger Dialektik wieder zu helfen. Ich habe natürlich meine Aufstellung so gehalten, daß ich im umgekehrten Fall auch recht habe."

2. Die rücksichtslose Kritik

Marx predigte – wie ausgeführt – die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden und wurde so zum Anwalt aller, die mit der Welt haderten. Ein Student pinselte an ein Gebäude der Universität Bayreuth: "Alles Scheiße!" Wer so empfindet, steht zumindest mit einem Bein im marxistischen Lager. Kein geringerer als Bert Brecht hat diesem Empfinden mit wohlgesetzten Worten Ausdruck verliehen und die Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) ließ sie in Stein meißeln, wo der Besucher sie noch heute lesen kann:

"Welche Niedrigkeit begingest du nicht, um
Die Niedrigkeit auszutilgen?
Könntest du die Welt endlich verändern, wofür
Wärest du dir zu gut?
Wer bist du?
Versinke in Schmutz
Umarme den Schlächter, aber
Ändere die Welt: sie braucht es!

Auch viele Bürgerliche, denen Marxens "rücksichtslose Kritik alles Bestehenden" unbekannt oder wesensfremd ist, halten ihm zugute, er habe seine Finger in eine Wunde der Zeit gelegt. Und in der Tat, so ist es! Auch Hitler hat seine Finger in eine Wunde der Zeit gelegt, in den Vorwurf, Deutschland und Österreich seien die Alleinschuldigen am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Doch weder Marx noch Hitler betraten insofern Neuland. Ausnahmslos alle deutschen Parteien protestierten damals gegen die "Kriegsschuldlüge". Und Marx? Er war weder der erste noch der Einzige, der die Gebrechen seiner Zeit beim Namen nannte. Engels’ Die Lage der arbeitenden Klasse in England bietet die Zusammenschau zahlreicher Aufsätze und Artikel, die andere verfaßt hatten. Engels: "Ich sitze bis über die Ohren in englischen Zeitungen und Büchern vergraben, aus denen ich mein Buch über die Lage der englischen Proletarier zusammenstelle." Der Text ist höchst aufschlußreich. Gegen Ende schildert er, was kommen wird: "Die zur Verzweiflung getriebenen Proletarier werden die Brandfackel ergreifen... die Volksrache wird mit einer Wut geübt werden, von der uns das Jahr 1793 noch keine Vorstellung gibt. Der Krieg der Armen gegen die Reichen wird der blutigste sein, der je geführt worden ist. Selbst der Übertritt eines Teils der Bourgeoisie zur Proletarierpartei, selbst eine allgemeine Besserung der Bourgeoisie würde nichts helfen..." Die behauptete Unentrinnbarkeit – verrät sie nicht, daß der Autor eben dies will. Wissen konnte er es nicht. Und die Geschichte Englands nahm einen ganz anderen Verlauf. Bei Marx war es nicht anders. Auch er hat keinerlei einschlägige Feldforschung betrieben, sondern die Texte anderer, soweit sie ihm ins Konzept paßten, ausgewertet. Auch bei ihm ist die Katastrophe unvermeidlich.

3. Die wunderbaren Verheißungen

Im Rundschreiben des ersten Kongresses des Bundes der Kommunisten vom 9. Juni 1847 heißt es: "Wir vertreten eine große, eine herrliche Sache. Wir proklamieren die größte Umwälzung, die je in der Welt proklamiert worden ist, eine Umwälzung, die an Gründlichkeit, an Folgenreichtum nicht Ihresgleichen hat in der Geschichte."

Der Kommunismus ist die Negation des Bestehenden. Das Bestehende ist aber das Gegenteil von dem, was eigentlich sein sollte. Also formuliert Marx: "Der Kommunismus ist die Position als Negation der Negation, darum das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung."

Das klingt souverän, das klingt so, als ob einer spräche, der es genau weiß; eine wissenschaftliche Offenbarung also. Es klingt aber auch ungemein verheißungsvoll. Beide Elemente des Marxismus: die scheinwissenschaftliche Qualität der Lehre und die Qualität dessen, was sie verheißt, haben, wie zahlreiche Bekenntnisse beweisen, faszinierend gewirkt und wirken so oftmals auch heute noch. Dafür ein Beleg: "Bei der ersten Berührung mit dem Marxismus war es mir zumute, als ob mir ein Weltbild geoffenbart würde, das die Lösung für alle quälenden Probleme bot... Ich fand mit einem Schlag einen Religionsersatz, eine Geschichtsphilosophie, eine wissenschaftliche Methode, eine soziale Ethik, eine politische Strategie, und das alles fügte sich zu einem logisch koordinierten System zusammen. Daraus ergab sich ein solches Gefühl der Sicherheit und der Kraft, daß der dadurch gesteigerte Tonus wie ein beständiger leichter Rauschzustand wirkte."

4. Der Religionsersatz

Im 19. Jahrhundert entfremdete sich der Arbeiterstand von den Kirchen. Er suchte nach einem Religionsersatz, den die Marxsche Lehre bietet, und nach einer neuen Bibel, die an die Stelle der alten treten sollte. Engels erkannte dieses Verlangen und nannte Marxens Kapital "Bibel" der Arbeiterklasse. Die Arbeiter hatten ihr großes Buch, in dem, wie sie annahmen, alles Wichtige stünde. Kaum einer las es, nicht einmal ihre politischen Führer. Anläßlich einer Tagung "Hundert Jahre Das Kapital", veranstaltet vom ZK der SED in Ost-Berlin, hieß es im Grußwort des Vertreters der Kommunistischen Partei Kanadas: "Hätte man das eine Buch zu wählen, das mehr als jedes andere den Lauf der Weltgeschichte beeinflußt hat, so würde man zweifellos Das Kapital von Karl Marx wählen... Würden Sie die Mitglieder der Kommunistischen Partei oder auch der sozialistischen Partei eines beliebigen Landes fragen, ob sie Das Kapital gelesen haben, Sie stimmen darin mit mir überein –, dann würden die meisten mit ‘nein’ antworten..."

Der Marxismus ist ein Spiegelbild des Offenbarungsglaubens bis hinein in die Details seiner Verwirklichung. Dem biblischen Garten Eden entspricht im Marxismus der Urzustand, wie er vor allem von Engels beschrieben worden ist. Dann kommt der Sündenfall. Marx selbst ist es, der die Parallele zwischen Offenbarungsglauben und seiner Lehre zieht. Unter der Überschrift: "Das Geheimnis der ursprünglichen Akkumulation" schreibt er: "Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde." Der Fluch der Sünde ist das "Jammertal", ein biblisches Wort, das auch Marx gebraucht. Hier wie dort wird ein Erlöser geboren. Im Marxismus ist es das Proletariat. Den Abschluß der Vorgeschichte der Menschheit bildet nach der Bibel das Jüngste Gericht, nach Marx die Kommunistische Revolution, jeweils ein furchterregendes, für viele schmerzliches Ereignis. Doch sie läuten eine glückliche Endzeit ein. Der perfekte Kommunismus ist das biblische Land der Verheißung, "in dem Milch und Honig fließen" und wohin der Herr sein Volk führen wird, eine Endzeitlehre, die den Himmel auf Erden verheißt, den neuen Himmel und die neue Erde in eins verschmelzen läßt.

5. Die Arbeitswerttheorie

Ein elematarer Bestandteil von Marxens Lehre ist, wie gezeigt, die Arbeitswerttheorie. Danach entstehen die Reichtümer nur durch menschliche Arbeit, und zwar entspricht ihr Wert der Stundenzahl, die für die Herstellung einer Ware aufgewendet worden ist. Der Unternehmer ist zwar im Produktionsprozeß ebenso notwendig wie der Dirigent im Orchester (Marx: "Der Befehl des Kapitalisten auf dem Produktionsfeld wird jetzt so unentbehrlich wie der Befehl des Generals auf dem Schlachtfeld"), aber er hat keinen Anteil am Mehrwert. Daraus folgt, daß alle Reichtümer dieser Erde von den Arbeitern geschaffen worden sind und geschaffen werden. Doch was gehört ihnen? Außer ihrer Arbeitskraft nichts. Was müßte ihnen gehören? Alles! Diese Antwort legitimiert sie zur Enteignung der Enteigner oder, um es mit Marx zu sagen: "Die Expropriateure werden expropriiert." Sind das nicht schier unwiderstehliche Sirenengesänge in den Ohren der Zu-Kurz-Gekommenen und derer, die sich dafür halten?

6. Engels’ Vorbild

Engels hat auf die deutschen Sozialdemokraten, die – global betrachtet – an der Spitze der sozialistischen Bewegung marschierten, einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Er, der gebildete, wortgewandte, sprachbegabte Unternehmer tut alles, um seinen Freund als den Größten, Tüchtigsten erscheinen zu lassen und nennt sich selbst bescheiden "zweite Violine": "Ich habe mein Leben lang das getan, wozu ich gemacht war, nämlich zweite Violine zu spielen, und glaube auch, meine Sache ganz passabel gemacht zu haben. Und ich war froh, so eine famose erste Violine zu haben wie Marx.". Erinnert sei an das überschwengliche Lob am offenen Grabe, wo er Marx vorbehaltlos auf eine Stufe neben Charles Darwin stellte. Marx habe u.a. das Gesetz der geschichtlichen Entwicklung entdeckt.

Da es in den Reihen der Sozialdemokraten immer noch viele Anhänger des 1864 an den Folgen einer Duellverletzung verstorbenen Ferdinand Lassalle gab, polemisierte Engels gegen den verhaßten Rivalen: "Man hat sich in Deutschland daran gewöhnt, in Ferdinand Lassalle den Urheber der deutschen Arbeiterbewegung zu sehen. Und doch ist nichts unrichtiger... Der ganze Inhalt seiner Schriften war entlehnt, selbst nicht ohne Mißverständnisse entlehnt, er hatte einen Vorgänger und einen intellektuellen Vorgesetzten, dessen Dasein er freilich verschwieg, während er seine Schriften vulgarisierte, und dieser intellektuelle Vorgesetzte heißt Karl Marx." Wider besseres Wissen behauptete Engels zum höheren Ruhme des Freundes, dieser habe die Internationale Arbeiterassoziation, die 1864 in London entstanden war, gegründet.

Wie sehr es Engels um die Wirkung und wie wenig es ihm um die Substanz ging, offenbaren Briefe wie der folgende: "Sei endlich einmal weniger gewissenhaft Deinen eignen Sachen gegenüber. Es ist immer noch viel zu gut für das Lausepublikum. Daß das Ding geschrieben wird, ist die Hauptsache; die Schwächen, die Dir auffallen, finden die Esel doch nicht heraus..."

In der Korrespondenz mit dem Freund unterdrückt Engels kritische Einwände nicht gänzlich. Nach außen hin ist er jedoch immer voll des Lobes: "Solange es Kapitalisten und Arbeiter in der Welt gibt, ist kein Buch erschienen, welches für die Arbeiter von solcher Wichtigkeit wäre, wie das Vorliegende... Wertvoll wie die Schriften eines Owen, Saint Simon, Fourier sind und bleiben werden – erst einem Deutschen war es vorbehalten, die Höhe zu erklimmen, von der aus das ganze Gebiet der sozialen Verhältnisse klar und übersichtlich daliegt, wie die niederen Berglandschaften vor dem Zuschauer, der auf der höchsten Kuppe steht."

"Beim Ausbruch der Februarrevolution [1848] bestand die deutsche ‘kommunistische Partei’ nur aus einem kleinen Stamm... Aber diese unbedeutende Streitkraft hatte einen Führer, dem sich alle willig unterordneten, einen Führer ersten Ranges in Marx..." Auch diese Behauptung ist frei erfunden, doch wer ihr glauben schenkt, wird sich einem solchen Führer willig unterordnen.

Engels’ Beispiel wirkte ansteckend. Als Wilhelm Liebknechts Sterne in der SPD verblaßten, wurde er, wie er selbst sagt, "aus Not... ein Märchenschmied" und versuchte, mit seiner Marx-Bekanntschaft zu imponieren. Was die Wirklichkeit nicht bot, mußte anheimelnde Gartenlaubenphantasie ersetzen. Freilich, Liebknecht war klug genug, bis nach Engels’ Tod zu warten, andernfalls hätte der "Esel", wie Marx und Engels über ihn zu lästern pflegten, eine höchst peinliche Korrektur einstecken müssen. Um Marx nicht zu diskreditieren, ließen sich August Bebel und Eduard Bernstein zu unglaublichen Textfälschungen hinreißen. Und diese Tradition der dolosen oder absichtslosen Schönfärberei besteht fort bis auf den heutigen Tag, wie die drei Eingangszitate beweisen.

7. Das liebe Geld

Damit sind wir beim Geld angelangt, das der unverheiratete, kinderlose Engels als Erbe des väterlichen Anteils an der Firma Ermen und Engels, Manchester, reichlich besaß, an dem die meisten anderen Mangel litten, so die führenden deutschen Sozialdemokraten, wenn sie, wie Liebknecht und Bebel, im Gefängnis für ihre Agitation büßen mußten. Kam dann aus dem fernen England eine Überweisung, Absender Friedrich Engels, war die Freude sicherlich riesengroß, die zur Dankbarkeit verpflichtete und auf weitere Gaben im Bedarfsfalle hoffen ließ. Auch die Partei selbst war Empfänger. "Da es sich bei den diesmaligen Wahlen um einen großen Effekt handelt, so müssen wir uns alle anstrengen, und so lege ich Dir für den Wahlfonds eine Anweisung für £ 25 bei."

Dieser materielle Gesichtspunkt ist bisher offenbar gänzlich unberücksichtigt geblieben, kann aber in seiner Bedeutung schwerlich überschätzt werden. So erlangte Engels ungeheuren Einfluß auf sozialdemokratische Führer und damit die Partei. Als Liebknechts Schwiegersohn es wagte, an Marx vorsichtig Kritik zu üben, drohte Engels dem Schwiegervater mit harten Konsequenzen, falls er dem bösen Treiben tatenlos weiter zusehen würde: "Es erscheint, mit Deinem Namen gedeckt, eine Schundschrift von einem mehr als zweideutigen Lumpazius, eine wahre Sauerei, worin dieser unwissende Lumpazius sich zum Verbesserer von Marx aufwirft. Diese Sauerei wird den deutschen Arbeitern durch Deinen Namen als Herausgeber auf dem Titelblatt als bildende Lektüre im Sinne unserer Partie empfohlen... Natürlich hat Dein Schwiegersohn Dich geprellt, absichtlich hättest Du das nie getan. Aber jetzt – wo Deine erste Pflicht ist, diese Sauerei abzuschütteln, zu erklären, Du seist schmählich hintergangen worden, und unter Deinem Namen werde kein Bogen mehr davon erscheinen – wie da?... Wenn Du die Herausgabe der Schl[esinger] Sauerei einstellst, so kann ich die Sache einschlafen lassen. Erscheint aber Fortsetzung..."

Schließlich darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß Engels einen Teil seines beachtlichen Vermögens der SPD vermachte, wovon die Parteispitze wußte, ein weiterer Grund, auf den namhaften Mäzen und sein Idol Marx Rücksicht zu nehmen.

Weder Marx noch Engels war je Mitglied der SPD oder einer der Parteien, aus denen sie hervorgegangen ist. Doch Engels hat, wie angedeutet, die Partei und einzelne namhafte Mitglieder finanziell gefördert. Dieses Verhalten legt den Schluß nahe, die SPD sei doch ihre Partei gewesen, und da die SPD eine demokratische Partei damals war und heute ist, kann die Einstellung der Freunde schwerlich antidemokratisch gewesen sein.

Dagegen spricht, daß sie stets versucht haben, die Partei nach links abzudrängen und die Bereitschaft zur gewaltsamen Revolution wachzuhalten. Außerhalb der SPD gab es damals keine politischen Kräfte, die ihren Absichten näher gestanden hätten. Also hatten sie nur die Wahl, entweder ihre Agitation einzustellen oder zu versuchen, diese Partei in ihrem Sinne umzugestalten. Alle einschlägigen Dokumente beweisen das, so Marxens Kritik des Gothaer Programms, in dem er die Diktatur des Proletariats als unumgänglich notwendig bezeichnete. Kurz vor seinem Tode hat Engels noch durchgesetzt, daß diese demokratiewidrige Agitation publik gemacht wurde. Monate vor seinem Ableben protestierte er in mehreren Briefen mit allem Nachdruck gegen die Versuche, ihn zum gesetzestreuen Bürger zu machen, so im Schreiben an Karl Kautsky vom 1. April 1895: "Zu meinem Erstaunen sehe ich heute im ‘Vorwärts’ einen Auszug aus meiner ‘Einleitung’ ohne mein Vorwissen abgedruckt und derartig zurechtgestutzt, daß ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit quand même dastehe..."

Ferner: Schon damals schlummerten in der SPD zwei Seelen, deren eine Ende 1918 die Kommunistische Partei Deutschlands ins Leben rief. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel, daß diese Abspaltung die Partei der Freunde gewesen wäre, daß das Programm der KPD ihren Vorstellungen entsprach.

8. Zusammenfassung

Die Zusammenschau aller einschlägigen Tatsachen läßt kaum einen anderen Schluß zu als die Annahme, daß die weltweite Verehrung von Marx nicht dem historischen Marx aus Trier, sondern einem Mythos gezollt wird, an dessen Weiterleben und Entfaltung noch heute Menschen und Institutionen vieler Länder teils aus Leichtfertigkeit, teils wider besseres Wissen mitwirken. Faktenorientierte Wissenschaft kann sich daran nicht beteiligen.


Obiger Text bietet Auszüge aus dem Buch des Autors "Marx und Marxismus – eine deutsche Schizophrenie. Thesen, Texte, Quellen", München 2001. Es enthält die Belege für die Zitate.



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