Prof. Dr. Peter Kügler (Innsbruck)

Konstruktivistische Unzulänglichkeiten

Veröfffentlicht in Aufklärung und Kritik 1/2002 S. 89-95


"Konstruktivismus" ist eine im 20. Jahrhundert in Mode gekommene Bezeichnung für eine Vielzahl von Theorien und Theorieentwürfen, die wenig miteinander gemein haben, da sie sich auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen und unterschiedliche Methoden mit dem Namen "Konstruktion" versehen. Ich gebrauche den Begriff in der Folge allerdings in einem engeren Sinn, nämlich für solche Theorien, die besagen, die wahrgenommene Wirklichkeit sei "konstruiert", weil das Wahrnehmen selbst eine Art von Konstruieren sei. Dieser auf die Wahrnehmung bezogene Konstruktivismus ist etwas völlig anderes als der "Konstruktivismus" in der Philosophie der Mathematik oder die wissenschaftstheoretische Schule, die als "Erlanger Konstruktivismus" bekannt wurde – um nur zwei Beispiele zu nennen.

Der Konstruktivismus als Theorie der wahrgenommenen Wirklichkeit läßt sich in zwei Gruppen teilen: Zur einen gehören die älteren Formen, die noch nicht als "Konstruktivismus" bezeichnet wurden, sondern als "Immaterialismus", "Idealismus", "Phänomenalismus" oder dergleichen, sowie die erst wenige Jahre alten Ansätze, für die sich der Name "radikaler Konstruktivismus" eingebürgert hat (wobei es auch heute noch Konstruktivisten im älteren Sinn gibt).

Beginnen wir mit dem radikalen Konstruktivismus. Was diesen auszeichnet, ist der Versuch, die These, die Wirklichkeit sei konstruiert, durch biologische und neurowissenschaftliche Befunde zu stützen. Ein Vorläufer des radikalen Konstruktivismus war daher Schopenhauer.(1) Typischerweise wird heute dabei der Frage nachgegangen, wie das Gehirn "seine" Wirklichkeit konstruiert. Gefragt wird also, wie das Gehirn aufgrund sensorischer Reize aus der Außenwelt die Wahrnehmung von Farben, Tönen, Gerüchen usw. hervorbringt, die ja in den Reizen selbst nicht vorhanden sind, wenn man annimmt, daß es sich bei diesen Reizen um physische Prozesse handelt, die im Gehirn in neuronale, also ebenfalls physische Prozesse umgewandelt werden.

Da der radikale Konstruktivismus durch naturwissenschaftliche Theorien begründet wird, die die Funktionsweise des Gehirns betreffen, wird er regelmäßig zum Ziel eines Einwands, den ich als "Zirkeleinwand" bezeichnen möchte. Dieser läuft auf die Behauptung hinaus, der radikale Konstruktivismus sei selbstwidersprüchlich oder hebe sich selbst auf. Der Einwand kann allerdings verschieden formuliert werden, wobei nicht jede Formulierung tatsächlich etwas ausrichtet. Relativ wirkungslos ist z.B. die folgende Version:

Der radikale Konstruktivismus wird durch naturwissenschaftliche Theorien begründet. Zugleich wird von Konstruktivisten behauptet, daß die empirische Wirklichkeit konstruiert sei. Daher können die Theorien, auf die sich der radikale Konstruktivismus stützt, nicht wahr sein, denn sie stimmen ja nicht mit einer objektiv existierenden Wirklichkeit überein. Der radikale Konstruktivismus zieht also den naturwissenschaftlichen Theorien – und damit sich selbst – den Boden unter den Füßen weg.

Radikale Konstruktivisten antworten auf diesen Einwand in der Regel mit einem Bekenntnis zum Instrumentalismus(2) oder einer anderen Abschwächung des naturwissenschaftlichen Wahrheitsideals. Wahrheit im realistischen Sinn – als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit oder ähnliches – ist für radikale Konstruktivisten ohne Interesse, weil diese Wahrheit ihrer Meinung nach gar nicht existiert oder unerreichbar ist.(3) Daher stellen radikale Konstruktivisten für ihre Auffassung auch gar nicht den Anspruch objektiver Wahrheit. Der folgende Satz ist Gerhard Roth z.B. so wichtig, daß er ihn kursiv setzt: "Was Naturwissenschaftler bestenfalls tun können, ist ein Gebäude von Aussagen zu errichten, das hinsichtlich der empirischen Daten und seiner logischen Struktur für eine bestimmte Zeitspanne ein Maximum an Konsistenz aufweist." Und er fährt in geraden Buchstaben fort: "Wenn ich mich als Konstruktivist innerhalb dieser Auffassung bewege, so verwickle ich mich bei der Anwendung empirischer naturwissenschaftlicher Forschungsresultate in keinerlei Selbstwiderspruch."(4)

Die Suche nach Konsistenz, also Widerspruchsfreiheit, ersetzt in den Augen von Roth die Suche nach Wahrheit, Realität, Objektivität usw. Ich glaube, daß sich radikale Konstruktivisten, die sich in dieser oder ähnlicher Weise verteidigen, dem Zirkeleinwand in der vorigen Formulierung erfolgreich entziehen können. Wer bereit ist, Wahrheit, Realität und Objektivität zu opfern, den braucht es auch nicht zu bekümmern, daß sein Standpunkt durch wissenschaftliche Theorien begründet wird, die nicht wahr sind und keine objektive Realität beschreiben.

Eine andere Version des Zirkeleinwands halte ich allerdings für unüberwindbar: Wie schon erwähnt, sagen radikale Konstruktivisten häufig, es sei das Gehirn, das "seine" Wirklichkeit konstruiere. "Das Gehirn und seine Wirklichkeit" heißt auch das Buch von Roth, aus dem ich soeben zitiert habe. Radikale Konstruktivisten, die sich mehr mit Evolutions- als mit Neurobiologie beschäftigen, sprechen zwar meist lieber von biologischen Organismen als Urhebern der Konstruktion, aber das macht keinen großen Unterschied. Bleiben wir daher der Einfachheit halber beim Gehirn: Das Gehirn konstruiert die Wirklichkeit; es ist aber selbst Teil dieser konstruierten Wirklichkeit und damit selbst etwas Konstruiertes; also konstruiert sich das Gehirn selbst.

Diese Neuauflage des ehrwürdigen Begriffs der causa sui, der Ursache ihrer selbst, in Gestalt des sich selbst konstruierenden Gehirns mag zwar manchen Metaphysikern anziehend erscheinen, dahinter verbirgt sich aber ein verhängnisvoller Zirkel. Denn das Konstruierende kann nicht identisch sein mit dem Konstruierten. Radikale Konstruktivisten können diesem Einwand offenbar nicht auf dieselbe Weise begegnen wie dem vorigen, denn auch wenn die Suche nach Wahrheit usw. aufgegeben wird, so bleibt doch – wie wir bei Roth gelesen haben – die Konsistenzforderung aufrecht. Wenn aber "Konsistenz" nicht bloß eine formale Eigenschaft ist, sondern auch etwas mit den Inhalten der verwendeten Begriffe zu tun hat, dann ist die These vom sich selbst konstruierenden Gehirn sicherlich nicht konsistent.

Zugegeben, der Begriff der Selbstkonstruktion könnte durchaus sinnvoll sein, wenn er sich auf materielle "Konstruktionen" bezieht. Ein Roboter könnte z.B. so gebaut und programmiert werden, daß er an sich selbst Hand anlegt und sich beispielsweise eine zusätzliche Gliedmaße verpaßt. Man kann sich auch ein Beispiel ausmalen, das einer Selbstkonstruktion des Gehirns etwas näher kommt. Stellen wir uns dazu einen Neurochirurgen vor, der einen Operationsroboter so programmiert, daß dieser anschließend ihn, den Neurochirurgen, am Gehirn operiert. In diesem Fall könnte man davon sprechen, daß sich das Gehirn des Neurochirurgen in einem gewissen Sinn selbst operiert. Denn es war das Gehirn des Neurochirurgen, das ihn dazu befähigt hat, den Roboter zu programmieren, der wiederum das Gehirn operiert. Doch egal, ob man in solchen und ähnlichen Fällen wirklich von einer "Selbstkonstruktion" sprechen sollte, es steht jedenfalls fast, daß es dabei immer um materielle Konstruktionsprozesse geht. Und das unterscheidet diese Art von Selbstkonstruktion von jener, die vom radikalen Konstruktivismus postuliert wird. Die "Konstruktion" der wahrgenommenen Wirklichkeit ist eine geistige Konstruktion. Wenn das Gehirn selbst etwas Konstruiertes ist, dann ist es etwas Geistiges. Wie sollte aber etwas Geistiges etwas Geistiges konstruieren, noch dazu, wenn es selbst ein Teil des Konstruierten sein soll?

Daß hier ein schlechter Zirkel vorliegt, wird von Konstruktivisten freilich häufig verschleiert, am häufigsten wohl durch den Gebrauch des Wortes "Selbstorganisation" bzw. "Autopoiesis". Auch dabei wird geflissentlich übersehen, daß "Selbstorganisation" ein zeitlicher/dynamischer Begriff ist, der sich nur auf materielle Vorgänge bezieht. Es wird also versucht, die geistige Konstruktion des Gehirns durch eine materielle "Konstruktion" zu ersetzen. Siegfried J. Schmidt schreibt beispielsweise: "Autopoietische Systeme erzeugen durch ihr Operieren fortwährend ihre eigene zirkuläre Organisation, die als grundlegende Größe konstant gehalten wird. Diese Organisation kann beschrieben werden als Netzwerk zur Produktion ihrer eigenen Bestandteile. Aufgrund dieser zirkulären Organisation sind lebende Symptome selbstreferentielle und bezüglich ihrer Organisation homöostatische Systeme, die ihrer Umwelt gegenüber autonom sind."(5)

"Selbstorganisation" heißt also nach Schmidt, daß ein materielles System Veränderungen an sich selbst verursacht und daß es bestimmte Größen durch Rückkoppelungsschleifen konstant hält. Damit kann das Rätsel des sich selbst konstruierenden Gehirns aber gewiß nicht gelöst werden, denn die angebliche "Selbstkonstruktion" des Gehirns kann keine materielle Selbsterzeugung sein, und mit einem homöostatischen Gleichgewicht unter dem Einfluß der materiellen Umwelt hat sie schon gar nichts zu tun. Sie ist also keine Selbstorganisation im Sinne von Schmidts Definition.

Daß sich das Gehirn selbst konstruiert, kann nur heißen, daß es geistige Phänomene (Begriffe, Wahrnehmungen, Theorien usw.) hervorbringt, durch die dieses Gehirn erst konstruiert wird. Das Gehirn als Gegenstand des Geistes müßte also zugleich dessen Urheber sein; das Gehirn müßte den Geist und auf diesem Weg sich selbst hervorbringen. Diese durch den Geist vermittelte Selbstkonstruktion des Gehirns ist sicherlich kein "Netzwerk zur Produktion ihrer eigenen Bestandteile" (Schmidt), sondern ein höchst mysteriöser Vorgang, der auch dann nicht weniger mysteriös wird, wenn er als zeitlicher Ablauf gedeutet wird. Es nützt nämlich nichts, wenn man sagt, das konstruierende und das konstruierte Gehirn seien ein und dasselbe Gehirn zu verschiedenen Zeitpunkten. Das Problem bleibt bestehen, daß ein geistig produziertes Gehirn, das nicht real existiert, überhaupt kein Gehirn geistig produzieren kann und damit natürlich auch nicht sich selbst bzw. sich selbst zu einem anderen Zeitpunkt.

Da der radikale Konstruktivismus heute sehr verbreitet ist, hielt ich es für besser, zuerst auf ihn einzugehen, obwohl er sich letztlich doch als zirkulär erwiesen hat. Ich wollte damit aber auch erreichen, daß die älteren Formen des Konstruktivismus in einem günstigeren Licht erscheinen. Denn obwohl frühere Konstruktivisten auf problematische metaphysische Konzepte zurückgegriffen haben ("Seele", "intelligibles Subjekt" usw.), so waren doch viele von ihnen – wenn auch nicht alle – weitaus empfindlicher gegenüber zirkulären Begründungen und kritischer gegenüber den Verführungen der Naturwissenschaft als die heutigen "radikalen Konstruktivisten".

Zu diesen älteren Formen des Konstruktivismus zählt beispielsweise der "Immaterialismus" von George Berkeley. Nach dieser Auffassung existieren keine materiellen Dinge, sondern nur Subjekte und deren geistige Zustände. Man braucht wohl die Subjekte nicht als unsterbliche Seelen zu deuten, wie es Berkeley getan hat; ebensowenig muß man an die Existenz von Gott glauben, der laut Berkeley ständig alles wahrnimmt und so eine Art Ersatz für die verschwundene Materie bietet. Auch wenn man diese gewagten Annahmen aus Berkeleys Theorie streicht, bleibt noch eine interessante konstruktivistische Position übrig.

Die meisten älteren Formen des Konstruktivismus beinhalten die These, daß materielle Fakten eigentlich sinnliche Fakten sind. Genauer gesagt: Fakten, von denen üblicherweise angenommen wird, sie würden materielle Gegenstände betreffen, betreffen eigentlich Sinneseindrücke, wobei mit "Sinneseindrücken" sowohl aktuelle als auch mögliche Sinneseindrücke gemeint sind.(6) Spricht man über die Materie, so spricht man in Wahrheit über aktuelle und mögliche Sinneseindrücke. Diese Auffassung, die heute meist als "Phänomenalismus" bezeichnet wird, wurde bereits von Berkeley in seiner Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis von 1710 angedeutet, als er schrieb: "Sage ich: der Tisch, an dem ich schreibe, existiert, so heißt das: ich sehe und fühle ihn; wäre ich außerhalb meiner Studierstube, so könnte ich seine Existenz in dem Sinne aussagen, daß ich, wenn ich in meiner Studierstube wäre, ihn perzipieren könnte, oder daß irgend ein anderer Geist ihn gegenwärtig perzipiert."(7)

In ontologischer Hinsicht hat der Phänomenalismus zweifellos viele Vorteile. Statt zweier Kategorien – Geist und Materie – kennen Phänomenalisten nur eine: den Geist. Das psychophysische Problem (die Frage nach dem Zusammenhang von Geist und Materie) und alle damit verknüpften Schwierigkeiten kommen daher gar nicht erst auf. Man sollte sich jedoch darüber im klaren sein, daß der Phänomenalismus einen hohen Preis für diese ontologische Vereinfachung bezahlt.

Zunächst müssen wir uns vor Augen führen, daß auch nicht-konstruktivistische Theorien das psychophysische Problem bisher nicht gelöst haben und wohl niemals lösen werden. Niemand weiß, wie Geist und Materie miteinander verknüpft sind. Manche Philosophen sprechen daher von einem "explanatory gap", einer "Erklärungslücke", die zwischen Materie und Geist notwendigerweise klafft.(8) Diese Lücke ist an sich schon besorgniserregend, denn sie unterbricht den kausalen Einfluß der materiellen Außenwelt auf den menschlichen Geist, der in jedem Wahrnehmungsakt stattzufinden scheint.

Noch mehr Grund zur Besorgnis hat aber, wer dem Phänomenalismus vertraut. Indem der Phänomenalismus die Existenz einer vom Geist unabhängigen Materie leugnet, macht er nämlich die Lücke zu einer Schlucht, die so breit ist, daß man nicht einmal mehr hinüberblicken kann. Anders und etwas weniger dramatisch ausgedrückt: Phänomenalisten können die Existenz des Geistes nicht durch die Existenz der Materie erklären. Nicht einmal eine lückenhafte Erklärung dieser Art steht ihnen zur Verfügung. Ihrer Auffassung nach ist ja kein materieller Tisch da, der zur externen Ursache meiner Wahrnehmung des Tisches werden könnte, indem er Lichtstrahlen auf meine Netzhaut reflektiert oder meinen Händen bei Berührung Widerstand leistet.

Mangels einer solchen, wenn auch lückenhaften, materialistischen Erklärung müssen Phänomenalisten daher zu einer von drei Alternativen greifen: Wie Berkeley, der Gott dafür verantwortlich machte, daß sich in den menschlichen Seelen Wahrnehmungen einstellen, können sie versuchen, die Existenz des Geistes auf andere Weise, d.h. nicht mit Hilfe der Materie zu erklären. Zweitens können Phänomenalisten versuchen, den Begriff "Materie" so zu interpretieren, daß er sich in eine neue Form der Erklärung des Geistes durch die Materie einbauen läßt. Und schließlich können sie, drittens, die Existenz des Geistes und die Abfolge der Empfindungen auch als eine unerklärliche und nicht weiter erklärungsbedürftige Tatsache hinstellen. Alle drei Alternativen sind mit schweren Mängeln behaftet; sehen wir sie uns genauer an:

Die erste hat den Nachteil, daß eine Erklärung des Geistes ohne Rückgriff auf die Materie wohl kaum besser sein kann als eine Erklärung mit Hilfe der Materie. Um nochmals Berkeleys Vorschlag aufzugreifen, Gott sei der Urheber unserer Sinneseindrücke: Die Idee einer göttlichen Einflußnahme auf menschliche Seelen ist sicherlich nicht verständlicher als die Idee einer Einwirkung der Materie auf den Geist. Und was immer man am Begriff "Materie" auszusetzen hat – der Begriff "Gott" ist sicherlich noch viel problematischer.

Dasselbe gilt aber auch für Erklärungen, die dem zweiten Weg folgen: Eine Erklärung mit Hilfe eines uminterpretierten Materiebegriffs ist ebenfalls mit großer Vorsicht zu genießen. Viele Phänomenalisten haben beispielsweise die Materie als eine Art Potenz zur Erzeugung von Wahrnehmungen definiert. John Stuart Mill nannte sie eine "permanente Möglichkeit von Wahrnehmungen".(9) Bertrand Russell kam zu einer ähnlichen Auffassung, als er die sogenannten "Sensibilia" einführte, "die denselben metaphysischen und physikalischen Status besitzen wie die Sinnesdaten, nur daß sie uns nicht gegeben sein müssen".(10) Eine Farbe, die gerade nicht wahrgenommen wird, oder ein Ton, der gerade nicht gehört wird, ist laut Russell ein Sensibile, das bei der Wahrnehmung aus der Potenz in die Aktualität übergeht. Die Materie in ihrer Gesamtheit setzt sich aus solchen Sensibilia zusammen.

Auch gegen einen solchen Phänomenalismus à la Mill oder Russell muß eingewandt werden, daß es mit der darin enthaltenen Erklärung des Geistes nicht weit her ist. Eine Erklärung mit Hilfe kausaler Prinzipien wird uns jedenfalls nicht angeboten, denn die Materie als Potenz ist nicht die Ursache der Wahrnehmungserlebnisse. Im Phänomenalismus stehen einander Materie und Geist nicht wie Ursache und Wirkung gegenüber, sondern wie Potenz und Aktualität. Zwischen diesen beiden Begriffspaaren gibt es zwar Verwandtschaftsbeziehungen, doch die Unterscheidung zwischen Potenz und Aktualität hat den gravierenden Nachteil, daß sie allein zu Erklärungszwecken nicht viel taugt. Denn zu sagen, etwas sei aktuell vorhanden, weil es zuvor potentiell vorhanden war, bringt unser Verständnis nicht wirklich weiter. Es erinnert eher an die berüchtigte vis dormitiva als Erklärung des Schlafes, über die sich Molière lustig gemacht hat. Selbst wenn es richtig sein sollte, die Materie als Potenz zur Erzeugung von Wahrnehmungen zu definieren, so möchten wir doch wissen, wie die Aktualisierung der Potenz vonstatten geht. Darüber aber kann der Phänomenalismus keine Auskunft geben.

Die dritte Alternative ist ebenfalls schwer zu akzeptieren, da sie uns zwingt, etwas höchst Sonderbares als unproblematisch zu betrachten: Während ich meine Umwelt wahrnehme, erlebe ich eine typische Abfolge von Empfindungen. Lasse ich meinen Blick z.B. über einen Baum schweifen, so folgt dem Schwarzbraun des Stammes das Grün der Blätter und das Weiß der Blüten. Berühre ich den Stamm, so folgt eine charakteristische Tastempfindung; nehme ich ein Blatt zwischen zwei Finger, so folgt eine andere Tastempfindung. Die Erlebnisse innerhalb der jeweiligen Sinnesgebiete sind in typischer Weise miteinander verbunden; sie stehen in zeitlichen Beziehungen zueinander und weisen qualitative Ähnlichkeiten und Unterschiede auf. Entsprechendes gilt aber auch für Erlebnisse, die unterschiedlichen Sinnesgebieten angehören: Bei der Wahrnehmung des Baumes folgen z.B. auf bestimmte visuelle Empfindungen bestimmte taktile. Außerdem nimmt man für gewöhnlich an, daß der Zusammenhang und die Regelmäßigkeit des Empfindens nicht nur im Erleben eines Menschen zu finden sind, sondern daß auch die Empfindungen verschiedener Menschen miteinander übereinstimmen. Wer denselben Baum betrachtet und berührt, der hat gleiche oder ähnliche Empfindungen wie ich. Zusammenfassend gesagt: Die Wahrnehmung bietet uns kein sensorisches Chaos dar, sondern eine Ordnung auf sensueller, intersensueller und intersubjektiver Ebene.

Diese dreifache Ordnung ist für den Phänomenalisten, der den dritten Weg eingeschlagen hat, nichts anderes als ein großes Wunder, für das es keine Erklärung gibt. Normalerweise erklären wir die Ordnung, die uns bei der Wahrnehmung eines Baumes begegnet, durch den Umstand, daß sich vor uns ein materieller Baum befindet, der in uns Empfindungen hervorruft, die bei den meisten Menschen sehr ähnlich sind, weil ihre Sinnesorgane und Zentralnervensysteme ähnlich funktionieren. Diese Erklärung ist zwar unvollständig, weil wir nicht wissen, wie Geistiges aus Materiellem hervorgeht (wieder die Lücke!), aber sie ist immerhin eine Erklärung. Von ihr nehmen Phänomenalisten Abschied, wenn sie die Ordnung des Empfindens als eine nicht erklärbare oder gar nicht erklärungsbedürftige Tatsache auffassen. Die dritte Alternative führt also ebenfalls vom Regen in die Traufe: Eine lückenhafte Erklärung wird durch gar keine Erklärung ersetzt.

Fazit: Während der radikale Konstruktivismus in einem schlechten Zirkel gefangen ist, der vielen seiner Anhänger gar nicht auffällt, hat der Phänomenalismus die These, die wahrgenommene Wirklichkeit sei konstruiert, immerhin zu Ende gedacht. Einige Konsequenzen dieser These sind jedoch so beschaffen, daß sie kaum Anlaß zum Jubeln bieten. Wer Konstruktivist sein möchte, sollte zwar lieber gleich zum älteren Phänomenalismus greifen, statt der Mode des radikalen Konstruktivismus zu folgen. Dann allerdings sollte er sich auch zu den Schwächen seiner Anschauung bekennen. Das heißt nicht, daß diese Anschauung falsch sein muß – vielleicht gibt es ja tatsächlich nur Geistiges und nichts Materielles. Doch die Wahrheit des Phänomenalismus wäre erst das eigentliche Rätsel. Gäbe es keine Materie, woher käme dann der Geist, die Ordnung der Wahrnehmung oder gar die durch materielle Medien vermittelte intersubjektive Kommunikation? Bevor diese Fragen nicht beantwortet sind, gibt es kaum einen Grund, den Phänomenalismus anderen, vertrauteren Theorien vorzuziehen, die auf die Existenz der Materie bauen.

Anmerkungen:

(1) Vgl. das Kapitel "Objektive Ansicht des Intellekts" im zweiten Band seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung. (Band II. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, 352-378.)

(2) Vgl. Ernst von Glasersfeld: "Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität", in: H. Gumin, A. Mohler (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus. München: Oldenbourg 1985, 1-26.

(3) Vgl. z.B. Siegfried J. Schmidt: "Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs", in: Ders. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, 11-88, besonders 39-41.

(4) Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, 351.

(5) Schmidt (Anm. 3), 22.

(6) Vgl. John Foster: The Case for Idealism. London: Routledge & Kegan Paul 1982, 15.

(7) George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Hamburg: Meiner 1979, 26.

(8) Vgl. Joseph Levine: "Materialism and Qualia: The Explanatory Gap". Pacific Philosophical Quarterly 64 (1983), 354-361; Colin McGinn: Die Grenzen vernünftigen Fragens. Grundprobleme der Philosophie. Stuttgart: Klett-Cotta 1996; David J. Chalmers: The Conscious Mind. Oxford: Oxford University Press 1996.

(9) John Stuart Mill: Eine Prüfung der Philosophie Sir William Hamiltons. Halle a. S.: Niemeyer 1908, 259.

(10) Bertrand Russell: "Sinnesdaten und Physik", in: Ders.: Die Philosophie des Logischen Atomismus. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1976, 103-129; 105.

Prof. Dr. Peter Kügler, Studium der Philosophie und Deutschen Philologie in Wien, Graz und Innsbruck. Seit 1992 am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck tätig, seit 2001 als außerordentlicher Universitätsprofessor. Mag. phil. Graz 1991; Dr. phil. Innsbruck 1994; Habilitation Innsbruck 2001



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