Dr. Joachim Jung (Wien)

Die Korruption der Vernunft

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik 2/1998, S. 27-43


1.

Der Begriff "Korruption der Vernunft"(1) umschreibt die Krisensituation der Philosophie im deutschsprachigen Raum.Wenn wir von den Schwierigkeiten unseres Faches sprechen, dann müssen wir zwei Aspekte deutlich unterscheiden. Auf der einen Seite haben wir es mit einem Bedeutungsverlust zu tun, der die Philosophie als ganzes betrifft, und auf der anderen Seite mit den spezifischen Verfallserscheinungen der deutschen Philosophie, die ein Teil der deutschen Hochschulkrise sind.

Ich wende mich zunächst dem ersten Aspekt zu und stelle fest, daß die Philosophie weltweit in die Krise geraten ist. Diese Krise wird hervorgerufen durch die zunehmende Spezialisierung und die Abspaltung der Fachwissenschaften. Der Raum für die Philosophie ist eng geworden, und wenn man ihr übelwill, kann man feststellen, daß es in der systematischen Philosophie kein Gebiet gibt, das man nicht auch in einem anderen Fach unterbringen könnte. Wie sehr der Tätigkeitsbereich unseres Faches eingeschrumpft ist, zeigt folgendes Beispiel aus der Politischen Philosophie. Samuel Huntington wird heute als Politikwissenschaftler angesehen, während einer seiner geistigen Vorläufer, Oswald Spengler, als Philosoph dasteht. Der Umstand, daß beide Denker auf unterschiedliche Fächer verteilt werden, geht nicht aus der Struktur ihrer Systeme oder ihren wissenschaftlichen Methoden hervor. Die Zuordnung ergibt sich allein aus der Tatsache, daß sich die Grenzen der Fächer in den letzten achtzig Jahren zu Lasten der Philosophie verschoben haben. Zu Spenglers Zeiten wäre Huntington als Philosoph angesehen worden, während man Spengler, wenn er heute lebte, als Soziologen oder Politikwissenschaftler bezeichnen würde. Die Spezialisierung hat zu einem schleichenden Verfall der Philosophie geführt. Diese allmähliche Aushöhlung ist nun in ein akzeleriertes Stadium eingetreten, da ein zweiter Umstand hinzugekommen ist. Damit meine ich die Kommerzialisierung, den Zwang, daß sich jegliche Arbeit finanziell rechnen muß. Wenn man die Philosophie unter dem Gesichtspunkt des unmittelbaren Nutzens betrachtet, macht sie eine unglückliche Figur. Profit kann die Philosophie nur dann erzielen, wenn sie sich – ähnlich wie die Kunst – darum bemüht, das Publikum zu delektieren. Damit tut sich die Philosophie erwiesenermaßen schwer. Denn einmal dürfte ihr Publikum zahlenmäßig geringer ausfallen als das der Kunst. Und zum anderen haben die staatlich eingesetzten Philosophen nie die Fähigkeit entwickeln müssen, eine breite Masse für sich zu interessieren. Sie haben sich nie dem freien Markt stellen müssen und waren nie gezwungen sich mit ihren eigenen Produkten, die kaum jemand kennt, den Lebensunterhalt zu verdienen.

Diese Probleme betreffen die Philosophie als solche. Davon abrücken muß man die spezifischen Probleme der akademischen Philosophie in Deutschland, die in der vorliegenden Untersuchung im Mittelpunkt stehen sollen. Welche Atmosphäre in der deutschen Philosophie herrscht, möchte ich an Hand einer Szene erläutern, die ich vor anderthalb Jahren erlebt habe. Im September 1996 traf ich während des XVII. Deutschen Kongresses für Philosophie in Leipzig einen jüngeren Philosophieassistenten. Ich kannte den Kollegen schon von einem früheren Symposium her, und damals hatte er auf mich einen recht aufgeweckten Eindruck gemacht. Daher fragte ich den Kollegen, ob ich ein Gespräch mit ihm führen und es auf Band aufnehmen könne. Der Kollege willigte ein, und so trafen wir uns am nächsten Tag in einem separaten Raum der Leipziger Universität. Zu Beginn fragte ich den jungen Mittelbauer nach der Habilitation, einer Einrichtung, die in den letzten Jahren mehr und mehr ins Gerede gekommen ist. Ich wollte von dem Dozenten wissen, ob er für die Beibehaltung oder die Abschaffung der Habilitation eintrete. Der Kollege erwiderte, das könne man so oder so sehen und wollte sich nicht auf einen Standpunkt festlegen. Ich insistierte auch nicht und ging gleich zur nächsten Frage über. Nun fragte ich nach der Abhängigkeit des Assistenten vom Professor: sollte man die persönliche Zuordnung eines Assistenten zu einem Professor beibehalten oder abschaffen? Der Kollege meinte, das könne man so oder so sehen, und er könne sich nicht auf einen Standpunkt festlegen. Auf diese Weise ging das Gespräch weiter, bis ich es nach einer halben Stunde, so höflich es ging, abbrach. Nun warf der Kollege angstvolle Blicke um sich und meinte, er habe sich vielleicht doch bei dem einen oder anderen Punkt zu weit vorgewagt. Obwohl der Assistent im Laufe des Gesprächs absolut nichts gesagt hatte, sperrte er nun seine nicht vorhandenen Aussagen für die Öffentlichkeit. Er war sichtlich erleichtert, als ich ihm versprach, seine Worte nicht zu veröffentlichen.

Wenn ich nach ähnlichen Verhaltensmustern suche, dann muß ich weit zurückgehen, nämlich bis zu den Bewohnern der ehemaligen Sowjetunion. Dort konnte man die gleichen Blicke, die gleichen zögerlichen Antworten erleben, das gleiche Bestreben, etwas zu sagen, ohne etwas zu sagen. Denn man wußte, daß man sich mit jeder Festlegung Schwierigkeiten einhandeln konnte. Das gleiche Angstklima findet man heute im Mittelbau deutscher Philosophieinstitute. Deutsche Philosophieassistenten sind sich bewußt, daß ein falsches Wort und eine falsche Bemerkung in einem ungünstigen Augenblick ihre Karriere gefährden kann. Die Abhängigkeit der Assistenten vom Professor verhindert Innovationen, wie sie sich gerade in der jungen Generation artikulieren können. Daher verzichtet man darauf, Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, ja man verzichtet sogar darauf, die Probleme selbst klar und deutlich auszuformulieren. Der philosophische Diskurs verkommt zu einem Eiertanz, in dem stundenlang geredet wird, ohne daß es je zu einer griffigen Aussage kommt.

Damit haben wir das zweite Manko der deutschen Universitätsphilosophie formuliert: die sprachliche Verwahrlosung. Viele deutsche Philosophiewerke bestehen aus Sätzen, denen nur mit Mühe ein Sinn unterlegt werden kann. Hier einige Originalzitate: "Eine indeterminierte, selektierte ‘Verteilung’ eines gewissen Repertoires extensionaler und materialer ‘Elemente’ zu einer graduierbaren ‘unwahrscheinlichen Ordnung’ heißt eine Ästhetik." Oder: "Die Verselbständigung der Diskursivität und die damit verbundene Aufwertung der Funktionalität bildet die erkenntnistheoretische Voraussetzung dafür, daß in Brunos letztem Werk die Logik Vorrang gegenüber der Ontologie gewinnt." Oder: "In seinen (sc. Luhmanns) Kommunikationsbegriff geht die konzeptionelle Gegenlinie zu einer eigenen Theorie generalisierter Kommunikationsmedien und funktional differenzierter Subsysteme ein."(2) Oder: "Der ästhetische Gegenstand ist das Phänomen der transzendenten Immanenz." Oder: "Akte der intentionalen Korrespondenzerzeugung sind Handlungen der Stilisierung der Existenz." Oder: " Es gehört zur Eigenart der naturbezogenen Korrespondenzerfahrung, daß von ihr her ein Übergang zur kontemplativen Einstellung weit näher liegt als vom Gefallen."(3) Ich bestreite niemandem das Recht, sich auf diese Weise zu äußern. Die Meinungsfreiheit muß auch Plattitüden und Banalitäten abdecken. Bedenklich wird es erst dann, wenn Philosophen für die Produktion solcher Sätze monatlich 12.000 - 15.000 Mark vom Steuerzahler entgegennehmen. Solche Verhältnisse tangieren unmittelbar das Problem sozialer Gerechtigkeit. Eine Studentin kann in der Früh als Putzfrau arbeiten und sich abends als Kellnerin verdingen und verdient doch nur so viel, daß sie sich ein Zimmer in einer WG leisten kann. Ein Philosophieprofessor, der sich weitschweifig über "das Sein des Seienden, sofern es ihm um sein Sein zu tun ist" ausläßt, erhält dafür ein Gehalt, wie es im Bankwesen und der Industrie üblich ist. Einen solchen Luxus kann man sich in Zeiten der Vollbeschäftigung erlauben. Aber bei über vier Millionen Arbeitslosen muß die Frage gestellt werden, wofür der Staat Geld bereitstellt und wofür nicht.

Diese Frage fällt noch mehr ins Gewicht, wenn man sich die dritte Verfallserscheinung der deutschen Universitätsphilosophie ansieht, die weitverbreitete Intrigenwirtschaft. Auf diesen Aspekt bin ich in meinem Buch "Der Niedergang der Vernunft" ausführlich eingegangen. Von den zahlreichen Fällen, die ich dort vorgebracht habe, möchte ich einen herausgreifen, und zwar jenen, der als einziger zum Erscheinungstermin des Buches noch nicht beendet war. Es geht um einen Fall von "Institutsdiebstahl" an der Technischen Universität Berlin. Dort wurde der Romanistik-Professor Michael Nerlich Opfer einer ausgefeilten Intrige, in der Philosophen eine führende Rolle gespielt haben.(4) Nerlich plante, ein Zentrum für Frankreichforschung an seiner Universität zu errichten. Dieses Institut sollte sich aus Frankreichspezialisten und Technikern zusammensetzen und auch französische Gastdozenten einschließen. Das Projekt wurde 1994 von der französischen Botschaft, dem Senat und dem für Geisteswissenschaften zuständigen Fachbereichsrat gebilligt und beschlossen. Die Machtkonstellation im Fachbereichsrat sollte sich jedoch bei der Umsetzung des Projekts als entscheidendes Hindernis erweisen. Seit Anfang der achtziger Jahre wird das oberste Gremium der geisteswissenschaftlichen Fakultät (des sogenannten "Fachbereichs 1") von einem Kartell aus Philosophen, Germanisten und Historikern beherrscht. Interne Absprachen haben dazu geführt, daß die Romanisten seit dieser Zeit keinen Vertreter mehr in den Fachbereichsrat durchbringen konnten. Im Jahr 1995 kam es nun zu den massiven Sparmaßnahmen an den Berliner Universitäten. Auch an der TU fürchteten viele Leute um ihre Stelle. In dieser Situation haben die Mitglieder des Fachbereichsrats im November 1995 die Entscheidung getroffen, die Romanistik-Stellen aus dem Projekt des Frankreichzentrums zu entfernen und sie durch von der Streichung bedrohte(5) Professuren für Germanistik, Geschichte und Philosophie zu ersetzen. Diese akademische Landnahme gipfelte in der Tatsache, daß der Dekan des Fachbereichs – ein Philosoph – den Posten eines Gründungsdirektors des Frankreichzentrums erhalten sollte, was auf eine "Selbsternennung" des Dekans hinauslief. Zudem sollte eine C 3-Professur für "Praktische Philosophie und Technikphilosophie" dem Frankreichzentrum zugeordnet werden, was die Philosophie zum dominierenden Faktor des neuen Instituts gemacht hätte. Um die philosophische Umgestaltung auch nach außen zu demonstrieren, sollte das Frankreichzentrum umbenannt werden in "René Descartes-Deutsch-Französisches Zentrum für Frankreichstudien und wissenschaftliche Forschung". Der allgemein gefaßte Ausdruck "wissenschaftliche Forschung" sollte anzeigen, daß das Frankreichzentrum eben nicht nur für Frankreichstudien zuständig wäre, sondern eben für alles mögliche, was man ihm gerade unterschiebt.

Dem Vater des Projekts, Michael Nerlich, gab man vor der Entscheidung keine Möglichkeit zur Stellungnahme. Nachdem der Fachbereichsrat diese Stellenumwidmung, die seinem eigenen Beschluß von 1994 widersprach, beschlossen hatte, wandte sich Nerlich mit einem Protestschreiben an den Akademischen Senat der Universität. Dort wollte man sich in den Streit nicht einmischen, aber man war immerhin bereit, der Bestellung des Dekans zum Direktor des Frankreichzentrums die Zustimmung zu verweigern.(6)

Obwohl der Fall mittlerweile durch einen Artikel des "Tagesspiegel" in die Öffentlichkeit gelangt war, hielt der Fachbereichsrat in seiner Sitzung vom 29.1.1996 an der Umwidmung des Frankreichzentrums fest. Kurz darauf ging der Fachbereichsrat noch einen Schritt weiter: am 25. März 1996 beschloß er die Einstellung des Studiengangs Romanistik an der TU, was offiziell als Sparmaßnahme ausgegeben wurde.Damit ist vorgesehen, die Professuren für Romanistik nach der Pensionierung ihrer Amtsinhaber nicht nachzubesetzen.(7)

Um die eigenen Leute mit Posten zu versorgen, errichteten die Geisteswissenschaftler ein Frankreichzentrum, bestehend aus einem Philosophen, einem Historiker und einem Germanisten bzw. Linguisten. Gleichzeitig wurde an der TU die Romanistik bis auf einige Kurse zum Französischstudium abgeschafft.(8) Nerlich beantragte daraufhin seine Versetzung an die Humboldt-Universität. Als letzten Tritt gegen ihn beschloß der Fachbereichsrat am 13. Mai 1996, daß Nerlich, wenn er weggeht, keinen Assistenten mitnehmen kann.

Dies war die Sachlage, als Anfang 1997 der "Niedergang der Vernunft" erschien. Ich hatte die Hoffnung, daß sich nun, nachdem die Fakten offen vorlagen, das Intrigengeflecht allmählich auflösen würde. Genau das Gegenteil geschah. Nach der Publikation des Buches setzten die Gegner Nerlichs unter Führung der Philosophen alles daran, ihre Allmacht zu beweisen. Sie verfielen in eine "Jetzt erst recht"-Haltung und versuchten die Lehrbefugnis Nerlichs einzuschränken. Nerlich, der sich auf Hispanistik spezialisiert hat, darf nach dem Wunsch des Präsidialamts der TU künftig nur noch französische Literatur unterrichten. Nerlich beschwerte sich über diese neuerliche Schikane beim Präsidenten der TU und beim Wissenschaftssenator. Beide antworteten nicht.(9)

Die Abhängigkeit des Assistenten vom Professor, die sprachliche Verwahrlosung und die Intrigenwirtschaft sind die drei Grundübel der deutschen Universitätsphilosophie. Als viertes Manko muß man noch den lähmenden Traditionalismus hinzufügen. Es ist in der deutschen Philosophie weithin üblich geworden, sich auf das Nacherzählen vorhandener Wissensgüter zu konzentrieren. Statt Probleme auszuformulieren und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, pflegt man das Andenken der großen Heroen der Philosophiegeschichte. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Heroen Leibniz und Kant heißen oder Wittgenstein, Foucault und Lacan. Die Wittgenstein-Scholastik und die Heidegger-Panegyrik ist keineswegs besser als die Heiligenverehrung, die man Kant und Hegel entgegenbringt. Es ist auch nicht damit getan, eine systematische Arbeitsweise vorzugeben, denn auch in der systematischen Philosophie findet man häufig nur eine Aufzählung dessen, was Leibniz, Kant, Hegel usw. zu dem jeweiligen Problem gedacht haben. Diese Verwässerung der systematischen Philosophie wird auf besonders penetrante Weise im Philosophieprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft deutlich.

Wenn man diese Einwände vorbringt, dann wird man erleben, daß die Universitätspotentaten immer wieder mit den gleichen Argumenten darauf reagieren. Ein Argument läuft darauf hinaus, daß die Philosophie sich gar nicht um Erkenntnisfortschritte bemühen müsse, sondern sich mit der Pflege des überlieferten Bildungsguts begnügen könne.Wer diese Meinung vertritt, ist freilich an einem Gymnasium besser aufgehoben als an einer Universität. Denn die Hochschulgesetze aller deutschen Länder legen eindeutig fest, daß die Universitäten sich mit Lehre und Forschung beschäftigen müssen, und von der Forschung heißt es unisono: "Die Forschung in den Hochschulen dient der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse."(10) Erkenntnisfortschritt ist die Aufgabe der Wissenschaft, und verbeamtete Philosophen, die sich dieser Aufgabe entziehen, kommen ihren Verpflichtungen als Hochschullehrer nicht mehr nach. Die Apologeten des status quo arbeiten darauf hin, einen Mangel zum Normalzustand umzumünzen. Ein Blick auf die Geschichte der Philosophie zeigt jedoch, daß es durchaus Erkenntniserweiterungen gegeben hat. Wenn die Stagnation zum Wesen der Philosophie gehören würde, dann müßte man sich fragen, warum Plato und Leibniz, Kant und Schopenhauer sich grundsätzlich Neues ausgedacht haben. Unter diesen Prämissen müßte man ihnen die Innovation eigentlich als Manko anrechnen.

Das zweite Argument, das von konservativen Universitätsphilosophen zuweilen angeführt wird, besteht darin, daß es sich bei den Kritikern um linke Elemente handelt. Mit links assoziiert man in diesem Zusammenhang gerne solche Begriffe wie chaotisch, diffus, zerstörerisch oder gar anarchistisch. Manchmal geht man noch einen Schritt weiter und bezeichnet Leute, die nach Reformen rufen, als "Verlierer des kalten Krieges", die im historischen Prozeß den Kürzeren gezogen hätten. Die Gewinner des Prozesses schreiben ihre Position dann gerne ihrer Tüchtigkeit und ihrem politischen Wohlverhalten zu. Dieses Schema wird dem Problem in keiner Weise gerecht. Es geht hier nicht um eine Auseinandersetzung zwischen links und rechts. Es geht vielmehr um einen Konflikt zwischen Kreisen, die den wissenschaftlichen Fortschritt unterstützen, und Kräften, die diesen Fortschritt bekämpfen, obwohl sie nach den schon zitierten Hochschulgesetzen zu seiner Förderung verpflichtet wären. Auf der einen Seite finden wir Menschen, die leistungsorientiert denken, und auf der anderen Seite Leute, die in Denkfaulheit und Bequemlichkeit verharren. Es kann wohl nicht angehen, daß Leistungsbereitschaft als links, Innovationsstreben als links und wirtschaftliche Orientierung als links angesehen werden. Das Grundproblem besteht darin, daß Philosophen, die Leistungen erbringen wollen, daran gehindert werden, während man Denkfaulheit, also das Nachpredigen von historischem Wissensgut, reichlich belohnt.

Das dritte Argument, das man immer wieder zu hören bekommt, heißt: "Das war doch immer schon so." Bevor man diesen Einwand vorbringt, sollte man freilich einmal konkret nachweisen, ob die deutsche Universitätsphilosophie tatsächlich immer so einfallslos und steril war, wie man es heute leider feststellen muß. Wenn man die Entwicklung bis 1933 verfolgt, wird man nicht leugnen können, daß es doch eine gewisse Vielfalt in unserem Fach gegeben hat. Vor allem gab es eine Korrelation zwischen der Philosophie und den Wissenschaften. Davon war in den fünfziger Jahren nichts mehr zu spüren. Und in der Tat hätte der "Niedergang der Vernunft" eigentlich damals schon geschrieben werden können, wenn sich jemand dieser Mühe unterzogen hätte.

Der Einwand "das war doch immer schon so" trifft die Sache nicht. Denn einmal ist die Tatsache, daß fünfzig Jahre Schlendrian herrschte, kein Grund, daß man nicht wenigstens im einundfünfzigsten Jahr eine Analyse des Schlendrians durchführen darf. Und zum anderen ist es für die Bekämpfung eines Mißstands völlig unerheblich, ob er "immer schon" bestanden hat. Wenn man sagen wollte: "Es gab immer schon Mißstände in der Universitätsphilosophie. Es lohnt sich also gar nicht, sie aufzudecken und zu beseitigen", dann ist das genau so, als ob man sagen wollte: "Es hat immer schon Morde gegeben und wird sie auch immer geben. Es lohnt sich also gar nicht, Mord strafrechtlich zu verfolgen."

Das vierte Argument, das man gegen meine Darstellung des Problems vorbringt, lautet: "Das ist doch auch in anderen Fächern so." Auf dieses Argument antworte ich: "Beweisen Sie mir das." Man kann nicht aus der hohlen Hand behaupten, daß die Intrigenwirtschaft und der Traditionalismus in anderen Fächern genau so virulent sind, wenn man die Fakten nicht auf den Tisch legt. Erst wenn man entsprechende Feldstudien betreibt, wie ich es in der Philosophie getan habe, kann man Vergleiche ziehen. In diesem Sinne möchte ich meine Studie zur deutschen Universitätsphilosophie der Gegenwart auch als Ansporn verstanden wissen, daß die Fachwissenschaftler sich in ihrem eigenen Metier umschauen und ähnliche Analysen für ihr Fach zustandebringen.

Bei alledem läßt sich natürlich nicht leugnen, daß der Verfall der akademischen Philosophie in Deutschland auch ein Symptom der allgemeinen Hochschulkrise ist. Standesdünkel, Cliquenwirtschaft und hierarchische Strukturen haben die Leistungsfähigkeit der deutschen Universitäten erheblich beeinträchtigt. Seit Jahren diskutiert man in der Öffentlichkeit darüber, wie man die deutschen Hochschulen wieder dem internationalen Standard angleichen kann. Man ist sich weitgehend darüber einig, daß der Wettbewerb zwischen den Hochschulen gestärkt werden soll. Ein Wettbewerb ist dann gewährleistet, wenn man die Möglichkeit von Preisvergleichen hat. Ich würde daher vorschlagen, Studiengebühren einzuführen, deren Höhe sich nach der Exzellenz der jeweiligen Universität bemißt, das heißt: nach der Nachfrage, die für sie besteht. Wenn generell Studiengebühren eingeführt werden, hätten auch private Hochschulen eine Chance, sich neben den staatlichen Universitäten zu etablieren und zu behaupten. Private Hochschulen wiederum böten die Möglichkeit, neue Initiativen zu verwirklichen. Sie wären nicht mit den verkrusteten Strukturen belastet, die an den heutigen Universitäten ungehindert und ohne die Möglichkeit äußerer Eingriffe fortwuchern. Unter diesen Verhältnissen hätten private Hochschulen die Möglichkeit, den alten Universitäten den Rang abzulaufen und eine internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.

Funktionieren kann dieses System natürlich nur, wenn gewisse Bedingungen verwirklicht sind. Einmal müßte gesichert sein, daß jeder bedürftige und hochqualifizierte Student tatsächlich ein Stipendium bekommt. Ferner müßte die Wirtschaft in einem viel höheren Maße als das heute der Fall ist, für die Universitäten spenden. Und darüber hinaus sollten auch die Professoren dazu angehalten werden, die Institute, denen sie ihren Lebensunterhalt zu verdanken haben, finanziell zu unterstützen.Wenn Studenten Studiengebühren zahlen müssen, dann sollten Professoren wenigstens durch freiwillige Spenden zur Aufrechterhaltung ihrer Universität beitragen. Dies würde den Staat erheblich entlasten.

2.

Für Reformen wie diese besteht jedoch wenig Hoffnung. Das gleiche gilt für eine Reform der akademischen Philosophie. Und doch kann man Gedankenspiele anstellen, theoretische Überlegungen darüber, welche neuen Inhalte die deutsche Universitätsphilosophie aufnehmen müßte, um eine würdige Gegenwart und eine gesicherte Zukunft zu haben. Positive Beispiele können in dieser Hinsicht mehr bewirken als Kritik. Ich möchte daher drei neue philosophische Modelle vorstellen, die zeigen, daß man Philosophie auch anders betreiben kann, als ständig nur die Autoritäten der Vergangenheit nachzuerzählen.

Ich beginne mit dem Werk "Guns, Germs and Steal. The Fates of Human Societies",(11) ein Buch, das vor kurzem unter dem Titel "Arm und Reich" auch auf deutsch erschienen ist.(12) Verfaßt wurde das Werk von Jared Diamond, Professor für Physiologie an der University of California in Los Angeles. Diamond geht den Fragen nach: Wie kommen die zivilisatorischen Unterschiede der Völker zustande? Und warum ist es dem Westen gelungen, kulturell und technologisch die Führung in der Welt zu übernehmen?Jared Diamond gibt auf diese grundsätzlichen Fragen eine originelle Antwort: er führt das Niveau einer Kultur auf die Bodenschätze, die Flora und Fauna der Gebiete zurück, in der sie entstand. Die Natur habe einige Völker stärker begünstigt als andere und ihnen damit einen höheren Zivilisationsstand verschafft. Diamond zufolge ergibt sich die kulturelle Entwicklung eines Volkes aus den natürlichen Reichtümern des Landes, das es bewohnt, und nicht aus seiner genetischen Konditionierung. Begabung und Intelligenz seien gleichmäßig unter den Völkern verteilt, erklärt Diamond und entwickelt damit die große Antithese zu den Bell-Curve-Experten Richard Herrnstein und Charles Murray.

Den ersten Anstoß zu seinem Thema erhielt der amerikanische Physiologe, als er sich 1972 zu Forschungszwecken in Neuguinea aufhielt. Damals begegnete er während eines Spaziergangs dem jungen einheimischen Politiker Yali. Der Papua fragte den amerikanischen Gastdozenten, warum die Weißen so viele Erfindungen mit ins Land gebracht hätten, von Stahläxten, Streichhölzern und Medikamenten bis hin zu Kleidern und Schirmen. Die Eingeborenen dagegen hätten kaum etwas hervorgebracht, was den Weißen in irgendeiner Hinsicht erstrebenswert sei. Diese Frage nach den Ursachen des Kulturgefälles sollte Jared Diamond die nächsten fünfundzwanzig Jahre beschäftigen. Das Ergebnis seiner Recherchen hat er in "Guns, Germs, and Steel" vorgelegt. Diamond beginnt seine Untersuchung mit dem Ende der letzten Eiszeit 11.000 v. Chr. Ein Beobachter, der damals die Völker der Welt verglichen hätte, hätte nicht voraussagen können, wo die künftigen Kulturblüten stattfinden. Das kulturelle Niveau war überall annähernd gleichrangig. Erst als die Gletscher sich zurückzogen, begann ein "Wettlauf der Kulturen", dessen Tempo die Bodenschätze bestimmten. Greifbar wurde der Fortschritt vor allem in einem Gebiet, in dem mehr Nutztiere und domestizierbare Pflanzen in freier Wildbahn lebten als irgendwo sonst auf der Welt. Dieses Gebiet erstreckte sich halbkreisförmig von Pälastina über Syrien bis nach Mesopotamien und wird als "Fruchtbarer Halbmond" bezeichnet. Von den fünf wichtigsten Nutztierarten Ziege, Schaf, Schwein, Kuh und Pferd wurden die ersten vier erstmals im Fruchtbaren Halbmond domestiziert. Die einheimischen Nutzpflanzen Weizen, Gerste, Erbsen und Linsen wurden von den Menschen zwischen Palästina und dem Persischen Golf aufgegriffen und in großem Stil angebaut. Mit der verbesserten Ernährungslage stieg die Bevölkerungszahl, und in der Folge entstanden größere Gemeinwesen mit Städten, stehenden Heeren und einer Beamtenschaft. Im Fruchtbaren Halbmond wurde der Mensch bereits zwischen 9000 und 6000 v. Chr. seßhaft, viel früher als in jedem anderen Gebiet der Welt. In Mittelamerika bildeten sich die ersten festen Siedlungen erst um 1500 v. Chr. heraus, ein Rückstand, den die einheimischen Völker der Neuen Welt nie wieder aufholen sollten.

Während Jared Diamond die Ernährungssituation zum dominierenden Faktor der menschlichen Kulturentwicklung macht, spielt das Klima bei ihm nur eine untergeordnete Rolle. Es gibt zwar einige Gebiete auf der Erde, deren Klima dem des östlichen Mittelmeers gleicht, wie Chile, Südafrika, Kalifornien, Südostaustralien, aber die Flora und Fauna dieser Landschaften bot den Ureinwohnern nur beschränkte Ernährungsmöglichkeiten. Das günstige Klima dieser Gebiete konnte erst dann voll ausgenutzt werden, als weiße Siedler auftraten und die landwirtschaftlichen Güter mitbrachten, die sie aus dem Fruchtbaren Halbmond ererbt hatten. Auch bei der Domestizierung von Tierarten sind dem Menschen enge Grenzen gesetzt. Von den 148 großen Säugetierarten können nur 14 gezähmt und gezüchtet werden. Wenn Schwarzafrika in der Rückständigkeit verharrte, so lag es nach Diamond unter anderem auch daran, daß die einheimischen Tiere sich der Zähmung durch den Menschen widersetzten. Zebras und Gazellen lassen sich genau so wenig domestizieren wie Flußpferde.

Mit der Einbindung von Tieren in ihren Haushalt handelten sich die Menschen jedoch auch eine gefährliche Erbschaft ein: ansteckende Krankheiten. Fast alle Infektionskrankheiten waren ursprünglich in Tieren virulent, bis sie auf den Menschen übergriffen. Die Erreger von Masern, Windpocken, Grippe und Typhus konnten sich ausbreiten und Epidemien hervorrufen, wo die Menschen seßhaft wurden und dicht zusammenlebten, d. h. in den hochzivilisierten Gebieten Eurasiens. Dort konnten sich die Erreger auf Dauer erhalten, was aber auch dazu führte, daß die Menschen gewisse Abwehrkräfte dagegen entwickelten, die weitervererbt wurden. Die Eingeborenenvölker, die in der frühen Neuzeit von den Europäern "entdeckt" wurden, hatten nie die Möglichkeit gehabt, Widerstandskräfte auszubilden und fielen den europäischen Krankheiten scharenweise zum Opfer. Es war den spanischen Truppen ein Leichtes, das Inka- und Aztekenreich zu zerschlagen, nachdem unzählige Ureinwohner von den Windpocken dahingerafft worden waren. Ein noch extremeres Beispiel bildete die Insel Hispaniola (Haïti), die 1492, als sie von Columbus entdeckt wurde, acht Millionen Einwohner zählte. In nur vierzig Jahren wurde die Urbevölkerung durch eingeschleppte Krankheiten vollständig ausgerottet.

Stahl, Gewehre und gefährliche Krankheitskeime haben die Überlegenheit des Westens begründet, erklärt Jared Diamond. Bei der Eroberung Amerikas spielten sie die entscheidende Rolle. Sie kamen vor allem im Schlüsselereignis der europäischen Landnahme zum Tragen, der Schlacht von Cajamarca 1532. Damals gelang es Francisco Pizarro mit seinen 168 Reitern, eine Armee von 80.000 Inkas in die Flucht zu schlagen und darüber hinaus noch ihren König Atahuallpa gefangenzunehmen. Diesem Ereignis widmet Diamond ein ganzes Kapitel seines Buches, und dabei stellt er auch eine jener naiven Fragen, ohne die wissenschaftliches Denken nicht vorankommt. Warum hat Pizarro Atahuallpa gefangengenommen? Warum ist der Inka-Häuptling nicht stattdessen mit einer Flotte in Spanien gelandet und hat Karl V. gefangengesetzt? Den Gründen für diese Konstellation nachzuspüren lohnt sich insofern, als sie die technische Überlegenheit des Westens dokumentieren, deren Folgen bis heute nachwirken.

Die Inkas hatten keine seetüchtigen Schiffe und mußten sich bei Eroberungen auf Landerwerb beschränken. Es wurde ihnen zum Verhängnis, daß sie keine Ahnung hatten, wer in ihr Reich eingedrungen war. Sie wußten nicht, daß bereits über ein Jahrzehnt vorher Cortés das Aztekenreich erobert hatte. Sie wären ohnehin außerstande gewesen, genaue Nachrichten darüber einzuholen, denn sie hatten keine Schriftkultur. Fatale Folgen hatte es, daß sie sich nicht auf die Metallverarbeitung verstanden. Die Knüppel, mit denen sie auf die Spanier einschlugen, prallten an deren Rüstungen ab. Umgekehrt boten ihre Ponchos keinen Schutz gegen die Schwerter der Eindringlinge. So kam es, daß die kleine Truppe um Pizarro an nur einem Tag 9000 Indios erschlug. Die Überlegenheit der Spanier wurde vollendet durch Pferde und Schußwaffen, deren Gebrauch bei den Inkas Panik auslöste. Was sich am 16. November 1532 im nordperunanischen Cajamarca ereignete, liest sich wie eine glänzende Bestätigung, daß "guns, germs, and steel" die bestimmenden Faktoren der europäischen Welteroberung waren.

Wenn wir Innovationen in der Philosophie suchen, so wird man sie naturgemäß in den angelsächsischen Ländern finden. Im deutschsprachigen Raum werden philosophische Neuerungen ja nicht anerkannt und systematisch zugrunde gerichtet. Dennoch gibt es auch bei uns gelegentlich einen Lichtblick, ein neues Talent, das es zu entdecken gilt. Einer, der in diesem Zusammenhang Erwähnung finden soll, ist der junge Kölner Philosoph Richard David Precht.Precht hat die Rechte der Tiere in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt. In seinem umfangreichen Werk "Noahs Erbe"(13) klagt er die Massentierhaltung an, aber auch die moralische Doppelbödigkeit, mit der Menschen ihre Haustiere hätscheln, während sie Wildtiere verfolgen. Precht weist darauf hin, daß in den letzten fünfzig Jahren geschätzte fünfzig Prozent aller Tier- und Pflanzenarten ausgerottet wurden. Gegenwärtig ist die Aussterberate bei Tieren etwa eine Million mal höher als die Artbildungsrate.

Precht bemüht sich, den geistigen Wurzeln nachzuspüren, die das gleichgültige Verhalten gegenüber dem Tierleid möglich gemacht haben. Dieses Verhalten ist nicht in der Natur des Menschen begründet, sondern historisch entstanden, in einem Prozeß ohne kausale Notwendigkeit. Precht führt die Mißachtung der Tiere auf die jüdisch-christliche Tradition zurück. Sie betrachtet den Menschen als eine "Sonderanfertigung Gottes", die zur Herrschaft über die Welt berufen ist (Genesis 1,28). Wie man mit Tieren umgehen soll, macht Genesis 9,2 ganz unverblümt deutlich: "Furcht und Schrecken vor euch (den Menschen) soll über alle Tiere der Erde kommen und über alle Vögel des Himmels und über alles, was auf dem Erdboden kriecht, und über alle Fische des Meeres." Dieses Programm bestimmte die Haltung gegenüber den Tieren im christlichen Abendland. Tiere waren Ausbeutungsobjekte und wurden dem Menschen nur dann gleichgestellt, wenn man sie satanischer Umtriebe bezichtigte und ihnen den Prozeß machte. Im Mittelalter erlitten Katzen, Hunde, Wölfe und Schlangen das gleiche Schicksal wie Hexen und Ketzer.

Schlecht wäre es um den Ruf der Kirche bestellt, wenn es in Tierrechtssachen nicht auch jene Lichtgestalt gäbe, auf die man sich heute gerne beruft: Franz von Assisi, der im 13. Jahrhundert die christliche Heilsbotschaft auf die Tiere übertrug. Franz befreite Hasen und Kaninchen aus Schlingen, setzte gefangene Fische ins Wasser zurück und kaufte Lämmer frei, die auf dem Markt angeboten wurden. Sein Wirken blieb in der Amtskirche ohne Belang. Lange galt Franz als Randfigur, als Querulant. Doch als seine Popularität zu wachsen begann, schreibt Precht, "entschloß man sich dazu, die Weisheiten des Anarchisten dadurch zu mildern, daß man sie offiziell in den Kanon eingliederte." Am Ostersonntag 1980 wurde Franz vom Papst zum Patron der Natur- und Umweltschützer erhoben. "Als großer Heiliger, dem alltäglichen Leben entrückt, bis zur schalen Vorbildlichkeit einer ohnehin unerreichbaren Figur, wiederholte die Kirche auch im Falle Franz von Assisis ihr Prinzip alles das, was sie nicht ausmerzen konnte, ruhigzustellen dadurch, daß sie es in ihr System integrierte; ein Prinzip, mit dem man seit den Tagen des Paulus erfolgreich war, hatte man es doch mit niemand Geringerem zuvor erprobt als mit Jesus von Nazareth, dessen Soziallehre fast sang- und klanglos hinter der Figur des am Kreuz gestorbenen Erlösers verschwand. Nur ein toter Christus war ein guter Christus, und nur ein toter Franziskus ein guter Franziskus."(14)

Die christliche Prägung wirkte bis in die Wissenschaft hinein. Als Carl von Linné im 18. Jahrhundert den Menschen mit dem Schimpansen verglich, kam er zum Ergebnis, daß beide in die gleiche Spezies eingeordnet werden müßten. Um jedoch Schwierigkeiten mit der Kirche zu vermeiden, erfand Linné für die nahen Verwandten zwei unterschiedliche Bezeichnungen: Homo sapiens und Pan troglodytes. Theologen und Philosophen arbeiteten eifrig daran, den Graben zwischen Menschen und Affen zu erweitern oder ihn zumindest zu erhalten. Aber es half alles nichts. In den letzten Jahren deckten Zoologen immer mehr menschliche Eigenschaften bei Schimpansen und Zwergschimpansen auf. Und eine DNA-Analyse ergab, daß der Mensch und seine nächsten Verwandten 98,4 Prozent ihres genetischen Materials gemeinsam haben.

Wenn die Unterschiede so minimal sind, folgert Richard David Precht, müssen Menschenrechte zwangsläufig auf das Tierreich ausgeweitet werden. Diese Maxime scheitert freilich an der praktischen Durchsetzbarkeit. Affen und Frösche, Bakterien und Schnecken können nicht gleiche Rechte erhalten. Auch die Natur gibt keine Antwort auf dieses Dilemma, denn sie kennt keine Zentralperspektive, nach der man eine Abstufung vornehmen könnte. So bleibt als einziges Kriterium letztlich doch nur der menschliche Blickwinkel, der in starkem Maße nach ästhetischen Kriterien entscheidet: der vom Aussterben bedrohte Sibirische Tiger, das Löwenäffchen und der Brillenbär können der menschlichen Sympathie sicher sein, während sich um Käfer und Schnecken kaum jemand kümmert.

Eine wichtige Rolle für die Arterhaltung spielen die zoologischen Gärten. Seit 1985 teilen sich europäische Zoos die Aufgabe, bestimmte Tierarten zu züchten, die in freier Wildbahn vom Aussterben bedroht sind. Precht begrüßt diese Initiative und verteidigt die Zootierhaltung damit, daß man der Bevölkerung die Notwendigkeit des Artenschutzes nirgendwo sonst so plastisch vor Augen führen kann wie in den Tiergärten. Damit setzt sich der Autor in den Gegensatz zu Tierschützern der Organisationen "Foundation Freeborn" oder "Animal Peace", die mit Filmen, Bildbänden und Protestaktionen auf das traurige Los der eingesperrten Tiere aufmerksam machen. Die Zoogegner monieren, daß auch großzügige Anlagen kein artgerechtes Tierleben ermöglichen und die Käfighaltung auf eine staatlich sanktionierte Tierquälerei hinausläuft. Precht hält diese Einwände zum Teil für berechtigt, aber für ihn wiegt die Erhaltung der Art schwerer als das Wohlergehen des einzelnen Tieres. Es stört ihn wenig, daß er sich damit dem Vorwurf des Anthropozentrismus aussetzt. Er verteidigt die menschliche Perspektive gegen die unmittelbaren Bedürfnisse des einzelnen Tieres: "Wir retten den Tiger nicht im Interesse des Tigers, sondern im Interesse all jener Menschen, die Tiger faszinierend finden."(15)

Wie man sich zu Tieren verhält, bleibt eine menschliche Entscheidung, die kulturell determiniert ist. Precht ruft dazu auf, diese kulturellen Grundlagen, die Massentierhaltung und Tierversuche möglich gemacht haben, in Frage zu stellen. Er weist darauf hin, daß es neben der Menschenwürde auch eine Tierwürde gibt, für die es sich einzusetzen lohnt.

Das dritte philosophische Beispiel, das ich an dieser Stelle vorbringen möchte, kann ich aus Platzgründen nur kurz anreißen. Es geht um die Kosmologie des russischen Physikers Andrei Linde, der an der Stanford University unterrichtet. Linde geht von der Schwierigkeit aus, zu erklären, was es vor dem "big bang" gegeben hat. Um das Problem eines plötzlichen Anfangs zu umgehen, entwarf Linde die Theorie, daß unser Universum aus einem Winkel, wörtlich aus einer Blase (bubble), eines früheren Universums hervorgegangen sei. Dieses frühere Universum umgibt oder durchdringt unsere jetzige Welt, wobei es möglich ist, daß in dieser "Vorwelt" völlig andere physikalische Bedingungen herrschten oder herrschen, als wir sie kennen. Dieses frühere Universum soll wiederum aus einem früheren Universum hervorgegangen sein usw., so daß sich ein Regreß in infinitum ergibt.(16) Eine ausführliche Darstellung der Kosmologie Lindes findet man bei Timothy Ferris: "The Whole Shebang. A State-of-the-Universe(s) Report".(17)

Die Geschichtsphilosophie Jared Diamonds, die Tierrechtsethik Richard David Prechts und Andrei Lindes Lehre vom "Multiverse" sind Denkansätze, die deutlich machen, daß auch im Umkreis der Philosophie wissenschaftliche Fortschritte erzielt werden können. Das Besondere an diesen Theorien besteht jedoch nicht in ihrem Inhalt, sondern es besteht in der Tatsache, daß sich deutsche Universitätsphilosophen kaum mit ihnen auseinandersetzen. Darin zeigt sich die ganze Verfahrenheit der Situation. Denn wenn Hochschullehrer der Philosophie nicht in der Lage sind, Erkenntnisfortschritte aus eigener Kraft zu erbringen, dann wäre das mindeste, was man von ihnen erwarten könnte, daß sie nach Innovationen in ihrem Fach suchen und jene sofort in ihren Lehrveranstaltungen präsentieren. Aber genau dies geschieht nicht. Und das ist der Grundfehler. Und deshalb ist die deutschsprachige Universitätsphilosophie so sehr ins Abseits geraten. Wenn diese Mißstände einreißen konnten, dann liegt es nicht nur am standesüblichen Konservatismus und der Ehrfurcht vor den Altvorderen, sondern schlicht auch an der weitverbreiteten Trägheit. Es macht Mühe, nach Innovationen zu suchen. Man muß übrigens auch wissen, wo man sucht, nämlich in Zeitungen und Zeitschriften, wie "The Times Higher Education Supplement", "New York Review of Books" oder "Journal of World History". Und vor allem muß man ein Gespür haben für Entwicklungen, die etwas voranbringen. All diese Eigenschaften sind im Milieu wenig verbreitet. Es ist ja viel einfacher, aus Kant und Heidegger abzuschreiben als sich um Erkenntnisfortschritte zu bemühen. Aus diesem Grund wird auch in den nächsten Jahren keine philosophische Innovationsmesse in Deutschland stattfinden. Stattdessen veranstaltet man in Berlin im Jahr 2000 einen überdimensionierten Kant-Kongreß, in dem man wieder einmal den Glanz und den Ruhm der deutschen Philosophie-Tradition beschwören wird.

Wenn wir uns nun die Frage stellen, was sich ändern müßte, um eine Reform zu erreichen, dann sind es vor allem zwei Ziele, die man verfolgen sollte:

Erstens müßte sich die Philosophie in viel stärkerem Maße als bisher lebenspraktischen Problemen zuwenden. Wenn Philosophen es sich zur Gewohnheit machen würden, zu allen politischen und sozialen Grundsatzfragen Stellung zu nehmen, würde die Frage nach der Existenzberechtigung der Philosophie von selbst verschwinden. Tatsache ist, daß akademische Philosophen es gewöhnlich für ihre besondere Würde halten, sich dezidiert nicht zu aktuellen Fragen zu äußern, um sich dann anschließend zu wundern, daß ihr Fachbereich in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit versinkt. Unter Universitätsphilosophen herrscht eine weitverbreitete Scheu, sich mit der konkreten Wirklichkeit einzulassen. Wenn fächerübergreifende Symposien zu bestimmten Sachfragen stattfinden, dann wird man häufig feststellen, daß die inhaltsleersten und abstraktesten Beiträge von Philosophen stammen. Dieses Manko zeigt sich auch im Lehrangebot der philosophischen Institute. Während auf eine gründliche Ausbildung in der Geschichte des Faches großer Wert gelegt wird, gibt es kaum Kurse zur beruflichen Praxis. Der Student lernt zwar genau, welche Ratschläge Descartes in seinem "Discours" gab und welcher Unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten besteht, aber er lernt nicht, was er nach seinem Studium mit diesem Bildungsgut anfangen kann. Professoren sollten ihre Studenten nicht nur mit philosophischem Wissen ausstatten, sondern ihnen auch beibringen, wie sie es beruflich nützen können.

Die zweite Erfordernis, dem die Philosophie Genüge tun sollte, besteht in der Rückbesinnung auf ihre klassische Funktion, nämlich als Medium der interdisziplinären Forschung zu dienen. Die Philosophie sollte als Transmissionsriemen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften auftreten. Sie sollte als ein Kitt wirken, der die Wissenschaften zusammenhält. Wenn die Philosophie sich als fächerüberspannendes universales Denken begreift, könnte sie wieder zurückfinden zu ihrer alten Aufgabe, gemeinsame Gesetzmäßigkeiten in der Wissenschaft herauszuarbeiten. Die Voraussetzung dafür wäre, daß man neugierig ist auf das, was in der Welt vorgeht, und daß man Interesse und Engagement am Fortschritt der empirischen Forschung zeigt. Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, daß die Verflechtung mit der wissenschaftlichen Forschung lange Zeit hindurch den Fortschritt der Philosophie begünstigt hat. Descartes und Leibniz, Hegel und Schopenhauer setzten sich mit der Wissenschaft ihrer Zeit auseinander und haben zum Teil selber fachspezifische Forschungen betrieben. Diese Tradition der Innovation wird heute gerne ausgeblendet. Das, was heute als "Pflege der Tradition" propagiert wird, nämlich das scholastische Nacherzählen von historischem Wissensgut, ist in Wirklichkeit ein Traditionsverlust, weil die wissenschaftliche Neugierde und geistige Regsamkeit der philosophischen Klassiker nicht berücksichtigt wird.

Die Forderungen, die ich hier aufgestellt habe, sind freilich hypothetischer Natur. Sie haben im deutschsprachigen Raum kaum Aussicht auf Verwirklichung. Zur Illustrierung der verfahrenen Situation findet man zahlreiche Beispiele, die belegen, daß eine Reform nicht erwünscht ist. Besonders deutlich wird dies im Philosophieprogramm der DFG, wo man Themen findet wie:

Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi. Edition Ulrich von Straßburg und Berthold von Moosburg

Herausgabe der Bolzano-Biographie von Gregor Zeithammer (1850)

Archivrecherche, Dokumentation und historisch-kritische Edition aller erreichbaren Texterzeugnisse zu Kants Amtstätigkeit

Gesamtausgabe der Werke Anthony Ashley Coopers, Third Earl of Shaftesbury Edition der dem Johannes Duns Scotus zugeschriebenen Theoremata

Edition der Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg 1720 - 1804

Für Themen wie diese werden jährlich 3 - 4 Millionen Mark aus Steuergeldern ausgegeben. Im Bereich der systematischen Philosophie sieht es ähnlich trostlos aus. Dort werden häufig genug historische Themen hineingeschmuggelt, um ja keine Eigeninitiative aufkommen zu lassen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Gespräch, das typisch ist für die vorliegende Situation. Ich habe vor einigen Jahren einem Professor in Leipzig meine Bedenken gegenüber der DFG vorgetragen. Der Professor erwiderte: "Wir sind selber sehr unzufrieden mit der Lage. Aber es wird bald neue DFG-Gutachter geben." Wenige Wochen später wurde der Hauptverantwortliche für den konservativen Philosophiekurs in seinem Amt bestätigt. Und auch die übrigen Gutachter sind bis heute nicht ausgetauscht worden. Dies zeigt, daß man gar nicht daran denkt, sich auf Reformprojekte einzulassen.

Zu Reformen hätte man ja in den letzten Jahren reichlich Gelegenheit gehabt, und zwar beim Aufbau der Hochschulen in Ostdeutschland. Hier hätte man zeigen können, ob man es mit Reformvorhaben ernst meint. Und man hat dann gezeigt, daß man nicht bereit ist, innovativen Ideen auch nur die geringste Chance einzuräumen. Der Radikale Konstruktivismus, die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die New Philosophy of Science und ähnliche philosophische Stilrichtungen kamen nicht zum Zug, während die große deutsche Tradition von Leibniz bis Schelling mit Stellen versorgt wurde. Das philosophische Netzwerk wurde durchsetzt mit Ideologen des Kantianismus und des Hegelianismus. Während alle Welt über die Folgen der Gentechnologie, über das Klonen von Menschen und Tieren diskutiert, bemerkte vor drei Jahren ein Professor der Universität Jena, die Philosophie brauche sich mit solchen Modeerscheinungen nicht abzugeben. Es genüge, wenn man hin und wieder einen Gastvortrag darüber höre. Solche Äußerungen sind bezeichnend für die Lage der Philosophie in Deutschland. Eine große Zahl deutscher Philosophieprofessoren arbeitet hart und emsig daran, die Philosophie um jeden gesellschaftlichen Einfluß zu bringen.

Reformversuche werden mit ausgeklügelten Machinationen hintertrieben. Wie man so etwas macht, beweist kein anderer besser als der Große Zampano aus Konstanz. Lange Zeit hatte Professor Zampano sich mit den Verhältnissen arrangiert und einen Hofstaat aus konservativen Zöglingen um sich herangezogen. Noch in seinem Buch "Der Flug der Eule", das 1989 erschienen ist, war die Welt der Wissenschaft in Ordnung. Dann begannen die Medien Anfang der neunziger Jahre über Mißstände an den Hochschulen zu berichten. Leute wie Sabine Rückert von der "Zeit", Sabine Etzold von der "Zeit" und Joachim Jung in der "Süddeutschen Zeitung" deckten die Mängel der deutschen Universitäten auf und bezogen mächtig Prügel dafür. Nun auf einmal schwenkte der Große Zampano um und entdeckte eine Hochschulkrise, die er, der Universitätslehrer, bis dahin kaum registriert hatte. In seinem Buch "Die unzeitgemäße Universität" (1994) brachte er die Verfallserscheinungen der Hochschulen beredt zum Ausdruck. Von da an gebärdete sich der Konstanzer Philosoph als Reformer, der den Kollegen bei jeder Gelegenheit erklärte, wo es langgeht. Diese progressiven Reden hinderten ihn freilich nicht daran, an der ideologischen Umwälzung in Ostdeutschland teilzunehmen und dort dafür zu sorgen, daß das ganze System, so weit seine Macht reichte, mit konservativen Kräften durchsetzt wurde. Der Große Zampano hat im Osten seine traditionsbewußten Konstanzer Kollegen mit Pfründen versorgt, während er im Westen zur Reform aufrief.

Die neueste Posse in dieser Tragikomödie kann man der "Deutschen Universitätszeitung" 22/1997 entnehmen. Dort heißt es(18) : "Anfang November (1997) beauftragte die Konstanzer Universität den renommierten Wissenschaftstheoretiker mit der Erarbeitung eines grundlegenden Reformkonzepts für die Hochschule. Weniger der Auftrag selbst als vielmehr die damit verbundenen Kompetenzen sichern dem Projekt auch überregionale Aufmerksamkeit: Zampano, der seit 1970 in Konstanz tätig ist, hat bei der Erarbeitung des Reformkonzepts völlig freie Hand. Er selbst kann die Mitglieder der Expertenkommission auswählen, die die Reformvorschläge im Detail entwickeln soll; die Hochschule will die Namen der Mitglieder lediglich zur Kenntnis nehmen. Nach dem Wunsch der Universität sollen Zampano und seine Mitstreiter, ‘ohne Denkverluste arbeiten’ und dabei ‘so tun, als ob die Universität noch einmal neu gegründet wird’ – ein zumindest hierzulande einmaliges Gedankenspiel."

Diese Vorgänge beschreiben deutlich, warum die deutschen Hochschulen sich mit Reformen schwertun: es werden regelmäßig diejenigen mit Reformvorhaben betraut, die an den Mißständen selber schuld sind. In das Milieu würde erst dann Bewegung einkehren, wenn man unabhängige Kandidaten mit Innovationen beauftragen würde. Aber solche unabhängigen Kandiaten sind kaum zu beschaffen. Die Verhältnisse bringen es mit sich, daß die Professorenkartelle alle Ebenen des philosophischen Wirkens bestimmen. Sie bestimmen über die Besetzung der Lehrstühle. Sie bestimmen, wer von der DFG Stipendien erhält. Und sie bestimmen, wer mit Hilfe des DAAD ins Ausland gehen darf. Auch die philosophischen Zeitschriften sind fast ausschließlich in den Händen von Universitätslehrern. An Stelle von mehreren unabhängigen Ebenen, die einander überwachen, haben wir ein einheitliches Machtgefüge, das keine geistige Bewegung zuläßt. Eingreifen können eigentlich nur die Bildungspolitiker, aber jeden, der einen Schritt in diese Richtung unternimmt, würde sofort den Vorwurf treffen, die Freiheit von Forschung und Lehre auszuhöhlen.

Was bedeutet dies alles für die Zukunft der Philosophie? Ich glaube, daß sich die Kluft zwischen esoterischer und exoterischer Philosophie in den nächsten Jahren noch vertiefen wird. Unter esoterischer Philosophie verstehe ich alle ins Detail gehenden Untersuchungen zur Philosophiegeschichte und sehr abstrakten Bereichen der systematischen Philosophie. Monographien wie "Die Netzwerktheorie der Handlung von R. S. Burt: Eine strukturelle und epistemologische Analyse" oder "Zur politischen Philosophie im Spätwerk Friedrich Schlegels"(19) werden nur in kleinen Auflagen und mit Hilfe hoher Subventionen gedruckt. Werke wie diese finden praktisch kein Publikum. Ihr Vertrieb ist davon abhängig, daß sie von Bibliotheken erworben werden. In Zeiten schrumpfender Budgets ist aber auch der Ankauf durch Bibliotheken keineswegs gesichert. Ich glaube, daß Monographien der genannten Art wenig Zukunftschancen haben, wenn sie sich an ein deutsches Publikum wenden. Es wäre daher ratsam, wenn man esoterische Philosophie künftig im Regelfall auf englisch verfassen würde. Damit wäre eine internationale Rezeption und ein entsprechender Absatz gewährleistet. Man mag hier den Gegeneinwand erheben, daß es wenig Sinn ergibt, Monographien über Gottlob Ernst Schulze oder Friedrich Heinrich Jacobi, die außerhalb Deutschlands kaum jemand kennt, in englischer Sprache zu verfassen. Der Einwand ist berechtigt, und dennoch böte gerade dieser Schritt Gelegenheit, unbekannte deutsche Philosophen der Vergangenheit dem internationalen Fachpublikum näherzubringen. Damit könnte man dem deutschen Provinzialismus ein wenig entgegenwirken.

Was man weiterhin auf deutsch verfassen kann, ist exoterische Philosophie. Diese Art von Philosophie beschäftigt sich mit Themen, die ein breites Publikum ansprechen. Mit einer philosophischen Betrachtung über die Entstehung der Welt kann man viele Menschen erreichen; mit einer Monographie über Augustinus’ "De Civitate Dei" kann man dies nicht mehr. Die Grundvoraussetzung für den Erfolg exoterischer Philosophie ist, daß man sie in einer gemeinverständlichen Sprache und nicht im Fachjargon abfaßt. Man muß auf den einzelnen Bürger, der keine philosophische Vorbildung hat, zugehen und versuchen, ihm philosophische Gedanken in einer Sprache mitzuteilen, die seinem intellektuellen Horizont adäquat ist.

Wenn man diese beiden Linien verfolgt: eine exoterische Philosophie auf deutsch und eine esoterische Philosophie, die überwiegend auf englisch erscheint, dann glaube ich, daß man unserem Fach durchaus Zukunftschancen zubilligen kann. Natürlich bin ich kein Prophet. Natürlich kann sich letztlich doch herausstellen, daß Willy Hochkeppel (München) und Günter Schulte (Köln) recht haben, wenn sie feststellen, daß die Philosophie als Fach am Ende ist. Wenn dem aber so ist, dann frage ich mich, warum so heftig über ihre Zukunft gestritten wird, anstatt daß sie sang- und klanglos zugrundegeht. Ich finde, man sollte, wenigstens außerhalb der Universitäten, eine Fortsetzung wagen. Man sollte es auf einen neuen Versuch ankommen lassen.




Anmerkungen:

(1) So lautete der Titel eines Buches, mit dessen Abfassung mich der Campus Verlag im Mai 1995 beauftragte. Im September 1996 habe ich das Manuskript fertiggestellt. Durch eine Fehlentscheidung des Verlages wurde der ursprüngliche Titel "Korruption der Vernunft. Der Niedergang der deutschsprachigen Universitätsphilosophie" kurz vor der Drucklegung abgeändert in "Der Niedergang der Vernunft. Kritik der deutschsprachigen Universitätsphilosophie". Unter diesem Titel ist das Buch am 18. März 1997 erschienen.

(2) Joachim Jung: Der Niedergang der Vernunft. Kritik der deutschsprachigen Universitätsphilosophie. Frankfurt 1997 (Campus), S. 16

(3) ebd. S. 177

(4) ebd. 83 - 88

(5) Alle geisteswissenschaftlichen Stellen an der TU sind von der Streichung bedroht, während die Stellen des Frankreichzentrums nicht gestrichen werden können, weil sie von der französischen Seite mitbeschlossen wurden.

(6) 10.1.1996

(7) Nerlichs Stelle war zunächst nicht davon betroffen. Sie wurde erst am 13. Mai 1996 vom Fachbereichsrat gestrichen.

(8) Das wurde als Argument gegen Nerlich ins Feld geführt: man sei doch so großzügig gewesen, trotz der erforderlichen Sparmaßnahmen, ein bißchen Französisch übrigzulassen. Es ist nur die Frage, wer dieses Französisch belegen soll, wenn keine Landeskunde Frankreichs mehr angeboten wird, die etwa für das Staatsexamen zwingend vorgeschrieben ist.

(9) Am 26.1.1998 wurde das Frankreichzentrum "feierlich" eröffnet. Der Vater des Projekts, Michael Nerlich, hatte zu der Veranstaltung keine Einladung erhalten. Anläßlich der Einweihung erschien eine Reihe von Artikeln, die auf Nerlichs Verdienste und die Ränkespiele seiner Gegner eingingen:
Ullrich Fichtner: Die acht Aktenordner einer schier unglaublichen Geschichte. Das erste Frankreich-Zentrum soll an der Technischen Universität Berlin feierlich eröffnet werden-ohne Romanisten, in: Frankfurter Rundschau 22.1.1998
Andreas Vuckovic: Die Technische Universität Berlin eröffnet ein Frankreich-Zentrum. Sparzwänge und Konkurrenz sorgten im Vorfeld für Turbulenzen, in: Berliner Morgenpost 25.1.1998
Ralph Bollmann: Frankreich-Zentrum ohne Romanistik, in: taz berlin 26.1.1998, S. 21
Dorothee Nolte: Ausdruck der Verbundenheit zur ehemaligen Schutzmacht, in: Der Tagesspiegel 27.1.1998, S. 25
Hans Dieter Heimendahl: Auf dem Grab der Romanistik. An der TU Berlin wurde das Frankreichzentrum eröffnet, in: Berliner Zeitung 27.1.1998
Ralph Bollmann: Die reine Leere. Sparzwang, Intrigen und eine geschichtliche Verantwortung gegenüber den Alliierten. An der Technischen Universität ist jetzt ein Frankreich-Zentrum eröffnet worden, das es eigentlich noch gar nicht geben kann, in: die tageszeitung 29.1.1998

(10) Sächsisches Hochschulerneuerungsgesetz § 27; Bayrisches Hochschulgesetz Artikel 8; Niedersächsisches Hochschulgesetz § 27 usw.

(11) New York 1997 (Norton & Company)

(12) Jared Diamond: Arm und reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt 1998 (S. Fischer)

(13) Richard David Precht: Noahs Erbe. Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen. Hamburg 1997 (Rotbuch)

(14) ebd. 188

(15) ebd. 338

(16) Andrei Linde: The universe: inflation out of chaos, in: New Scientist 7, März 1985, S. 14-18

(17) London 1997 (Weidenfeld & Nicolson)

(18) S. 6

(19) Aus dem Philosophie-Programm des Peter Lang-Verlags Winter 1997/98

Dr. Joachim Jung (*1959 in St. Goar) studierte Philosophie, Geschichte und Slawistik in Mainz und wohnt seit 1985 in Wien. Herausgeber der "Zeitschrift für Philosophie" und deren Nachfolgezeitschrift "Kontroversen in der Philosophie" (ab Oktober 1998).



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