Dr. Traugott Flamm (Wiesbaden)

Glaube oder Wissen?

Wie wird die Kirche auf die Herausforderung
durch die Wissenschaften reagieren?

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik 2/1999, S. 136-142

Wahrscheinlich überhaupt nicht. Die Kirche – die katholische wie die evangelische – wird vermutlich ebenso stumm bleiben wie bisher und versuchen, die logischen Widersprüche, die sich fast zwangsläufig aus der Konfrontation zwischen Theologie und Wissenschaft ergeben, weiterhin in der Schwebe zu halten nach dem Motto: Nur nicht daran rühren. Das war nicht immer so. In Zeiten, als die katholische Kirche noch die Macht und als Exekutiv-Organ die "Heilige Inquisition" besaß, konnte sie noch einen Galileo Galilei zum Abschwören seiner These von der Sonne als Zentralgestirn zwingen, Giordano Bruno, der das Weltall als unendlich in Zeit und Raum begriff und zahllose Sonnen mit Planeten vermutete, nach siebenjährigem Prozeß in Rom öffentlich verbrennen, Abweichler und Ketzer verfolgen und außer mit dem Kirchenbann auch mit Gefängnis, Folter und Tod bestrafen. Selbstreferentielle Institutionen – unabhängig, ob religiös oder weltanschaulich fundiert – mit einem geschlossenen Werte- und Interessensystem haben bis in die jüngste Vergangenheit die eigenen Vorstellungen mit Gewalt durchgesetzt und ihre Demarkationslinien mit Blut eingezeichnet. Und die Kirche bildete hierbei keine Ausnahme, wie die Opfer der Inquisition und der Hexenhinrichtungen bezeugen. Wer die bisher erschienenen Bände von Deschners Werk "Kriminalgeschichte des Christentums" gelesen hat, weiß, wovon die Rede ist. Auch weniger martialische Rechtfertigungs- und Überzeugungshilfen wie der Ausspruch des Kirchenvaters Tertullian – Erfinder der Immunisierungsstrategie – "Credo quia absurdum est" sind zwar für Kreationisten, Sektenanhänger und Esoteriker immer noch gültige und praktizierte Vokabeln, aber für die forschende Wissenschaft und ihre Repräsentanten ist es unzumutbar, an etwas glauben zu sollen, was dem Verstand völlig unannehmbar erscheint. Das gilt für alle, die im Kant’schen Sinn mündig geworden sind und seinem Aufruf "Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" Folge leisten. Weil die Naturwissenschaften ihren Erkenntnisstand in den letzten hundert Jahren gewaltig erweitert und in den vergangenen Jahrzehnten beinahe beängstigend vorangetrieben haben, kam es zu einer Art Stillhalteabkommen zwischen Theologie und Wissenschaft. Man einigte sich, ohne dies explizit zu machen, darauf, die Wahrheit als teilbar anzusehen und zu unterscheiden zwischen der Wahrheit der Religion und der Wahrheit des wissenschaftlichen Verstandes. Vor allem seitens der Theologen wurden die Zuständigkeiten ängstlich abgegrenzt. So kam man sich offiziell nicht zu sehr in die Quere und war auf diese Weise der alten Auseinandersetzung zunächst enthoben, was die Theologen mit Erleichterung und Aufatmen quittierten. Viel Aufschub ließ sich damit allerdings nicht gewinnen, denn man konnte auf Dauer in einer aufklärerisch gestimmten Welt die denkenden und hinterfragenden Menschen, die das Wissen vom Tod und die Angst davor – verknüpft mit der Frage nach einem Jenseits – ebenso in ihrer Lebenswelt erfahren wie die neuen, faszinierenden und zum Nachdenken anregenden Erkenntnisse über unseren Makro- und Mikrokosmos, nicht zufriedenstellen mit dem zuvor geschlossenen faulen Kompromiß, die religiöse Wahrheit besitze eben eine andere Qualität als die durch rationale Anstrengung erlangte Kenntnis von der Wahrheit dieser Welt. Hoimar von Ditfurth schreibt dazu: "Hat jemand, der ausdrücklich verkündet, daß die von ihm vertretene Wahrheit mit den in dieser Welt herrschenden logischen und natürlichen Gesetzen nichts, aber auch gar nichts zu tun habe, eigentlich Anlaß, sich zu wundern, wenn sein Anspruch, in dieser Welt mitzureden, auf skeptische Zurückhaltung stößt?"

In dieser Situation wurde es wie ein Geschenk des Himmels empfunden und der Vatikan hat sich auch entsprechend geäußert, daß die Mehrheit der Astronomen und Astrophysiker sich im Hinblick auf die Entstehung unseres Universums auf ein vor rund fünfzehn Milliarden Jahren stattgefundenes Urereignis einigen konnte, daß wir aber – bis heute jedenfalls – nichts über das Jenseits des Urknalls in Erfahrung gebracht haben. Die Definition des Ur-alls als einer "Singularität" aus reiner Energie von unendlicher Dichte sagt eigentlich nur aus, daß wir darüber nichts wissen. So blieb Raum genug zu spekulieren, wie die Initialzündung erfolgte. Für die einen geschah dies als naturgesetzliche Notwendigkeit, wobei als Naturgesetze nicht nur die uns bekannten vorauszusetzen sind. Dafür gibt es noch keine schlüssige Theorie und erst recht keinen Beweis. Für die Kirche war der "Urknaller" ihr personifizierter Schöpfergott, was ebenfalls nicht mehr als eine unbewiesene Annahme darstellt. Insgesamt aber doch ein Hoffnungsschimmer für die Kirche, denn man war ja in der Vergangenheit von den Naturwissenschaften Jahr für Jahr und Stück für Stück in die Defensive gedrängt worden und stand nun zwar mit dem Rücken zur Wand, aber immerhin pari mit der Wissenschaft. Das jedoch ist vielleicht nur ein passagerer Trost, denn wenn es der Wissenschaft eines Tages gelingt – in tausend, zehntausend oder hunderttausend Jahren, falls die Spezies Mensch bis dahin nicht wie unzählige Arten vor ihr von der Evolution ausgelöscht wurde oder sich selbst ausgerottet hat – die Entstehung des Universums zu erklären und zu beweisen, ohne einen Gott im christlichen Verständnis bemühen zu müssen, dann hat die Kirche schlechte Karten. Für den Augenblick ist die Situation gerettet, und man darf weiter über eine Initialzündung oder einen möglichen Initialzünder spekulieren. Ein nicht zu übersehendes Handicap für die Kirche bleibt jedoch: Die biblischen Aussagen über die Erschaffung der Welt und die Entstehung des Menschen müssen revidiert, d. h. entweder endgültig ad acta gelegt oder als Parabeln, symbolische Gleichnisse oder Ähnliches ausgegeben werden. Da lassen sich dann, wenn die einzelnen Textstellen vorgenommen werden, geistige Verrenkungen und nicht mehr nachvollziehbare Umdeutungen kaum vermeiden. Und hier beginnen die Schwierigkeiten für die Kirche. Der grammatikalisch etwas schiefe Satz "die Kirche denkt in Jahrhunderten – aber um Jahrhunderte zu spät", läßt sich nicht nur auf die erst vor kurzem erfolgte Rehabilitierung Galileis oder auf das immer noch nicht erfolgte Eingeständnis des an Giordano Bruno und vielen anderen verübte Unrecht anwenden, sondern trifft mit voller Schärfe das Verhalten der Kirche zur Evolutionstheorie Darwins und seiner Nachfolger. Wie immer, wenn sich im Zuge der Aufklärung Konflikte zwischen Kirche und Wissenschaft anbahnten, hat sich der Vatikan zunächst der Methode des Abstreitens, Abwiegelns, Verschweigens und des Diskriminierens bedient, in der stillen Hoffnung, die Zeit würde für die Kirche arbeiten. So auch im Fall der Evolutionstheorie. Das jedoch war ein riesengroßer Irrtum. 1996, über hundert Jahre nach Darwins Tod, blieb dem Papst schließlich nichts anderes übrig, als in seiner Botschaft an die Mitglieder der "Päpstlichen Akademie der Wissenschaften" die Evolutionstheorie anzuerkennen, jedenfalls was den Menschen als körperliches Wesen angeht. Diese Meldung, einschließlich der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Lehrinhalte der Kirche, ist bisher von den Medien kaum zur Kenntnis genommen worden, aber sie hat es in sich. Es sind nämlich nicht nur die großen philosophischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen neu stellen und nun von einem ganz anderen Blickwinkel aus diskutiert werden. Millionen von gläubigen Christen wollen vielmehr wissen, welche Bedeutung haben diese Erkenntnisse und ihre teilweise Akzeptanz durch den Vatikan für sie selbst, für ihren eigenen praktischen Glauben. Welche Konsequenzen müssen sie für sich persönlich daraus ziehen, wie sollen sie ihre bisherige Einstellung zu den Texten der Bibel, dem "Buch der Bücher", ändern, und wie können sie das, was heute an den Schulen und Universitäten gelehrt wird und durch fundierte Untersuchungen und entsprechende Literatur belegt ist und auch über die Medien mannigfach verbreitet wird, mit dem in Einklang bringen, was man ihnen kirchlicherseits immer noch von der Kanzel oder in erbaulichen Schriften nahebringt.

Hier beginnt es für die Kirche gefährlich zu werden, wie sich an einem einfachen Beispiel zeigt: Adam und Eva, das Paradies, der Sündenfall und die Erbsünde. Sehen wir einmal von dem vernunftwidrigen Dogma ab, daß ein im christlichen Sinn vollkommen gerechter und gütiger Gott jeden Menschen mit dem Fluch der Erbsünde beladen zur Welt kommen läßt, weil seine Stammeltern angeblich im Paradies gegen Gott gesündigt haben. Dafür werden nun alle Nachgeborenen – die Jungfrau Maria ausgenommen – bestraft, obwohl sie doch ganz sicher nichts dafür können, daß Adam und Eva in den verbotenen Apfel gebissen haben. Hier lassen sich schon deutlich die Umrisse des Gottes aus dem Alten Testament erkennen, des rachsüchtigen, grausamen, kleinlichen und eitlen Gottes der Juden. Heute besteht Konsens unter den Wissenschaftlern über die evolutionäre Entwicklung der Lebewesen und Arten bis hin zum Homo sapiens. Der Mensch von heute ist nicht das einzige Ergebnis der Evolution. Er kann sich, da diese weder Richtung noch Ziel kennt, d. h. nicht teleologisch, sondern allenfalls teleonomisch ausgerichtet ist, weder als Krone der Schöpfung noch als Endziel der evolutionären Entwicklung betrachten. Das fällt unserem über Jahrhunderte zementierten anthropozentrischen Denken allerdings schwer. Wenn man seitens der Kirche die Evolution akzeptieren muß, weil man die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht bis zum jüngsten Tag negieren kann, dann ist der Lehre von der Erbsünde der Boden entzogen. Adam und Eva und ein Paradies im biblischen oder einem anderen Sinn hat es ebensowenig gegeben, wie den sogenannten "Sündenfall" und die daraus resultierende Erbsünde. Trotzdem wird immer noch – wie seit zwei Jahrtausenden – von der Kirche von Adam und Eva berichtet, und zwar so, als ob sie real existiert hätten, wird auf das Paradies, auf den Sündenfall und die sogenannte Erbsünde hingewiesen, von der der Mensch nur durch die Taufe befreit und gereinigt werden kann. Im Katechismus der katholischen Kirche, Libreria Editrice Vaticana von 1993 wird ausgesagt: "Was die Sünde, im besonderen die Erbsünde, ist, sieht man nur im Licht der göttlichen Offenbarung ..." "Der Bericht vom Sündenfall verwendet eine bildhafte Sprache, beschreibt jedoch ein Urereignis, das zu Beginn der Geschichte des Menschen stattgefunden hat. Die Offenbarung gibt uns die Glaubensgewißheit, daß die ganze Menschheitsgeschichte durch die Ursünde gekennzeichnet ist, die unsere Stammeltern freiwillig begangen haben ..." "Die Kirche, die den ‘Sinn Christi’ hat, ist sich klar bewußt, daß man nicht an der Offenbarung der Erbsünde rühren kann, ohne das Mysterium Christi anzutasten". Diese Glaubenssätze aus dem Katechismus klingen kryptisch, verwirren mehr als Klarheit zu schaffen und geben Anlaß zu neuen Fragen: Was hat Christus mit der Erbsünde zu tun? Jesus hat doch erst Millionen Jahre später gelebt! Wer von unseren Stammeltern hat denn nun die Ursünde freiwillig begangen, vielleicht schon Ardipithecus, der "Bodenaffe" oder Australopithecus anamensis vom Turkanasee oder geschah dies erst Millionen Jahre später, als der Cromagnon-Mensch schon lebte? Und worin soll denn die Ursünde bestanden haben, wenn es kein Paradies, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn, gegeben hat? Kann man einer dieser Übergangsformen vom Tier zum Menschen überhaupt so etwas wie eine "Ursünde" zurechnen und sie gar dafür verantwortlich machen? Nach heutigem wissenschaftlichen Verständnis sind solche Vorstellungen Humbug. Die dogmatischen Aussagen aus dem Katechismus sind in dieser Form sicher nicht geeignet, für den gläubigen Christen eine Brücke zwischen Wissenschaft und Glauben zu schlagen, auf der er sich sicher bewegen kann. Weil diese Sätze weder logisch noch plausibel erscheinen, werden sie vom Kirchenvolk als Immunisierungsstrategie verstanden, so wie es schon Tertullian vorexerziert hat. Der Rückzug auf die Offenbarung erlaubt keine echte Antwort auf die drängenden Fragen der Zeit und die Menschen fühlen sich allein gelassen zwischen ihrer alten biblischen Vorstellung von Gott, Paradies und Erbsünde und dem wissenschaftlichen Bild einer Menschheit, die sich über sehr lange Zeiträume evolutionär entwickelt hat und zwar im Hinblick auf Körper, Geist und Bewußtsein. Damit beginnen ernsthafte Zweifel an der Lehre und dem Kanon der Kirche, und dann wundern sich die Kirchenoberen, wenn diese Zweifel weitergetragen und auf andere Gebiete ausgedehnt werden. Nun stellt sich verständlicherweise die Frage, warum läßt die Amtskirche nicht die ganze biblische Geschichte von der Erschaffung der Welt und dem Menschen in der Versenkung verschwinden und sagt: Die Wissenschaft hat recht, so, wie es in der Bibel steht, war es nicht; wir müssen umdenken. Unter anderem müssen wir auch die Erbsünde als Glaubenslehre streichen. Aber, und hier fängt das Dilemma der Kirche an, dann wäre ja auch folgerichtig das Sakrament der Taufe hinfällig, und das war ja bisher das zuverlässigste Instrument, um die Menschen, ohne sie zu fragen, schon kurz nach der Geburt an eine bestimmte Konfession ketten zu können. Als Schreckgespenst steht der Kirche die Vorstellung vor Augen, man würde die Taufe aufgeben, den Religionsunterricht durch Ethikunterricht ersetzen und es jedem Menschen mit Erreichen der Volljährigkeit freistellen, ob er einer Religionsgemeinschaft beitreten möchte und wenn ja, welcher. Das wäre doch erst echte Religionsfreiheit. Eine freie, persönliche Wahl und keine schon im wehrlosen Säuglingsalter erfolgte Festlegung.

Der Papst hat sich ein Hintertürchen offengehalten bei seiner Entscheidung für die Evolution, denn sie gilt nach seiner Auffassung nicht für die Geistseele, – was immer er darunter versteht – die die Person und Würde des Menschen ausmache. Die Seele – so sagt der Papst – ist von Gott unmittelbar geschaffen und wird dem Menschen vermutlich bei der Zeugung eingehaucht. Der Geist fiel nicht vom Himmel, sagen dagegen die Wissenschaftler und meinen, die Gesetze der Evolution gelten auch für den Geist, das Bewußtsein und das Ichbewußtsein. In unvorstellbar langen Zeiträumen und über viele Stufen und Richtungen hinweg hat sich unser Bewußtsein entfaltet, wobei die Cerebralisation, die Entwicklung des Gehirns und speziell des Cortex, eine bedeutsame Rolle gespielt haben. Kein Akt also, sondern ein sehr sehr langer Prozeß. Als hominide Wesen – nicht mehr ganz Tier und doch nicht ganz Mensch – zum ersten Mal sich nicht mehr nur als Teil ihrer Außenwelt begriffen und ein Empfinden dafür bekamen, daß sie nicht nur Gruppe, sondern auch Individuen waren, als der erste schwache Funke werdenden Selbstbewußtseins zu glimmen begann und sich in einer langen Entwicklungsreihe mit von der Evolution wieder aufgegebenen Seitenästen zu Verstand und Vernunft entfaltete, da begann die Morgendämmerung des Menschengeschlechts. Aber was ist mit der Seele, die Gott angeblich für sich reserviert hat und jedem Menschen persönlich einpflanzt? Unsicher gewordene und mit Zweifel beladene Christen fragen nach und wollen wissen: Wenn Gott und die Wissenschaft recht haben, hat dann Gott schon den Australopithecinen eine Seele zugedacht oder erst dem Homo habilis, dem Homo erectus, dem Neandertaler oder gar erst dem Cromagnon-Menschen? Wie und wo hat er die Grenze gezogen zwischen noch Tier und schon Mensch? Jene Hominiden, die von Gott als erste mit einer Seele ausgestattet wurden, haben sie dies vielleicht gar nicht bemerkt, weil sie nicht wußten, daß sie schon als Menschen eingestuft waren? Wurden sie überhaupt gefragt, ob sie eine solche haben wollten, da doch ihre Väter und Großväter noch keine besaßen? Im Nachhinein keine schöne Vorstellung, seine eigenen Vorfahren nicht im Himmel wiedersehen zu können, weil sie mangels Menschenähnlichkeit nicht für würdig befunden worden waren, eine Seele zu bekommen. Hat sich die Seele im Lauf der Evolution vielleicht doch zusammen mit Geist und Bewußtsein entwickelt? Oder ist alles ganz anders gewesen? Ist das Ganze vielleicht nur ein Irrtum, vielleicht nur Wunschdenken und es existiert keine von Geist und Bewußtsein getrennte unsterbliche Seele? Haben wir Menschen aus unserer anthropozentrischen Sichtweise heraus einfach ein solches Konstrukt benötigt, um mit dem Leid und der Ungerechtigkeit auf dieser Welt und dem Bewußtsein des Todes besser umgehen zu können. Wir haben ja keinerlei Probleme damit, uns vorzustellen, daß wir Jahrmilliarden hindurch nicht existent waren, aber es will nicht in unseren Kopf, daß wir einmal genauso für Jahrmilliarden nicht mehr existent sein werden. Daß wir einmal nicht waren, das ist in Ordnung, aber daß wir einmal nicht mehr sein werden und spurlos verschwinden sollen, das können wir nicht akzeptieren. Und dann sind da auch noch die Tiere. Wenn wir schon den Primaten soziales Verhalten, eine gewisse Moral und in bestimmten Grenzen intelligente Leistungen zugestehen und zugeben müssen, daß die Differenz zwischen uns und ihnen zwar nicht aufgehoben, aber wesentlich kleiner ist als lange Zeit angenommen, dann wollen wir wenigstens als Krone der Schöpfung den Tieren eine unsterbliche Seele voraushaben. Darauf können wir nicht verzichten. Oder doch? Zeigt nicht die Geschichte der Evolution deutlich, daß wir zwar die höchstentwickelten und mit Verstand und Vernunft ausgestatteten Primaten sind, aber eben nicht mehr. Und daß es, ebensowenig wie für die Geschichten der Bibel über unsere Erschaffung auch für unsere unsterbliche Seele keinen Anhaltspunkt gibt. Plato legte mit seiner Ideenlehre den Grundstein für die Existenz einer unsterblichen Seele und das Christentum hat als "Platonismus fürs Volk" davon profitiert. Aber Plato kannte die evolutionäre Erkenntnistheorie eben noch nicht. 1992 – vier Jahre vor der Anerkennung der Evolutionstheorie durch die Kirche – schrieb Pater Niklaus Pfluger vom Internationalen Priesterseminar Herz Jesu-Zaitzkofen in Schierling an den Verfasser: "... genausowenig übrigens, wie Sie heute noch an das Märchen der Evolution glauben können. Das hatte man uns vor ein paar Jahren im Gymnasium erzählt; heute sollte mittlerweile jeder begriffen haben, daß diese ‘Evolution’ (wie Sie sie verstehen) nur eine Masche der Gottesleugnung ist". Der gute Pater Pfluger, der immerhin katholische Priester ausbildet, wird sich umorientieren müssen, nachdem – horribile dictu – sein oberster Glaubenshüter in Rom auf die Linie der Wissenschaft eingeschwenkt ist. Es wird ihm und vielen anderen bibelorientierten Katholiken schwer genug fallen. Wenn irgendwann in der Zukunft – für die Erforschung der Wahrheit spielt die Zeit eine untergeordnete Rolle – die Hirnforscher gemeinsam die Geheimnisse der neuronalen Netze entziffert und Geist und Bewußtsein als Funktion des Gehirns entschlüsselt haben werden, und wenn sich dann kein Zipfelchen einer Seele, kein noch so kleiner Hinweis auf dieses Konstrukt unserer Unsterblichkeit finden läßt, dann wird die Kirche wieder mit sehr schlechten Karten dastehen.

In der Vergangenheit haben sich Theologen und Wissenschaftler immer wieder erbitterte Gefechte geliefert und jedesmal war es die Kirche, die – oft nach langer Hinhaltetaktik – den Rückzug antreten mußte. Anders als früher kann sie sich in der Auseinandersetzung mit der Wissenschaft nicht mehr immunisieren und wie im Fall der Erbsünde auf Glauben und Offenbarung verweisen, wenn Ratio und Vernunft zu ganz anderen Ergebnissen kommen. Auch der Rückzug auf zwei unabhängig voneinander bestehende Wahrheiten, eine theologische und eine wissenschaftliche, läßt sich dem im Kant’schen Sinn aus der Unmündigkeit herausgetretenen Menschen nicht mehr plausibel vermitteln. Die Gläubigen wollen als Antwort auf ihre Fragen keine erbauliche "Kanzel-Lyrik", keine salbungsvollen Sonntagsreden, keinen Wust von kryptischen, unverständlichen Worthülsen und keine Sätze, die beginnen oder enden mit: "Die Offenbarung sagt uns, Gott erwartet von uns, die Bibel erzählt uns". Gefordert sind klare Antworten auf klare Fragen. Wenn die Kirche sie nicht geben kann oder will? Na, dann!

Traugott Flamm, nach dem Abschied aus dem Berufsleben Aufnahme eines Studiums an der Universität Mainz Deutsche Philologie, Philosophie, Pädagogik . Promotion 1993. Mehrjähriger Aufenthalt in Indonesien mit Studium des Islam, des Buddhismus und der Hindu-Bali-Religion. Lehrtätigkeit: indonesische Sprache und Literatur. Hauptinteresse: Die Herausforderung der Religionen durch die Naturwissenschaften.



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