Prof. Dr. Hans Albert (Heidelberg)

Ein streitbarer Philosoph

Ernst Topitsch zum Gedächtnis

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, Sonderheft 8/2004 für Ernst Topitsch, S. 7-14

Als ich kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges mein Studium begann, dominierten im deutschen Sprachbereich Denkweisen, die für sich in Anspruch nahmen, den Geist der Aufklärung überwunden zu haben. Vor allem die Philosophie Martin Heideggers stand im Mittelpunkt des Interesses. Die politische Entwicklung seit den 30er Jahren hatte dafür gesorgt, daß die meisten Vertreter kritischer Denkweisen aus Deutschland und Österreich verschwunden waren. Der in Princeton lehrende Philosoph Walter Kaufmann hat die Eindrücke, die er damals auf einer Reise nach Deutschland beim Besuch deutscher Universitäten gesammelt hat, in einem Aufsatz verwertet, der den Charakter des Studiums der Philosophie an deutschen Universitäten und den starken Einfluß des Heideggerschen Denkens in eindrucksvoller Weise schildert. Die kritische Analyse von Argumenten und Problemlösungen, so stellte er fest, sei hier im Rahmen des philosophischen Studiums so gut wie unbekannt(1).

Ernst Topitsch gehört zu den Denkern, die in dieser Zeit den Geist der Aufklärung wiederbelebt und dafür gesorgt haben, daß die Philosophie und die Sozialwissenschaften in diesem Bereich nach der durch die nationalsozialistische Herrschaft verursachten Katastrophe wieder Anschluß an die internationale Entwicklung gefunden haben. Ich hatte den Vorzug, die Resultate seiner Forschungen und die Entwicklung seines Denkens schon sehr früh zur Erkenntnis nehmen zu können und verdanke ihm geistige Anstöße und Anregungen, die für meine Arbeit von entscheidender Bedeutung waren. Unsere Verbindung entstand durch unser gemeinsames Interesse an der Wertproblematik, der er seine Habilitationsschrift und zahlreiche andere Arbeiten gewidmet hat, und am Ideologieproblem, von dem er in seiner Strukturlehre der Weltauffassungen ausging, deren Ausarbeitung sein bedeutendster Beitrag zum philosophischen Denkens sein dürfte.

Im Juli 1953 schrieb ich ihm nach der Lektüre zweier Arbeiten aus seiner Feder zur Wertproblematik und bat ihn um Auskunft über seine Habilitationsschrift. Damals war ich gerade nach meiner Promotion Assistent am Kölner Lehrstuhl für Sozialpolitik geworden, und Topitsch war Privatdozent für Philosophie an der Universität Wien. Von einer Tagung in Cambridge zurückkommend, besuchte er mich dann im August dieses Jahres in Köln, und wir stellten fest, daß wir nicht nur gemeinsame Interessen, sondern auch ganz ähnliche Auffassungen hatten. Von da an begann ein reger und anregender Briefwechsel, der bis zu meiner Berufung nach Mannheim im Jahre 1963 andauerte. Mein Umzug von Köln nach Heidelberg im Dezember dieses Jahres brachte mich in seine unmittelbare Nähe, denn er war inzwischen Ordinarius für Soziologie an der Universität Heidelberg geworden. Unseren Gedankenaustausch konnten wir nun bis zu seiner Berufung auf einen Grazer Philosophie-Lehrstuhl und seinem Umzug nach Graz Ende 1969 in mündlicher Form fortsetzen.

Die sechs gemeinsamen Heidelberger Jahre sind mir noch in besten Erinnerung. Wir trafen uns während der Semester oft jedes Wochenende, meist in meiner Wohnung, diskutierten ausgiebig über die uns interessierenden Probleme und tauschten Informationen über interessante Arbeiten aus. Er trug sich dann jedes Mal mit einem kurzen witzigen Gedicht in unser Gästebuch ein, das stets einen aktuellen Bezug hatte, zum Beispiel:

Den Hegel manche grimmig hassen,
Doch andre wolln davon nicht lassen,
Zum Frieden rat ich euch die Regel,
Sir Popper ist der wahre Hegel.
Damit die Leute sich nicht streiten,
Wer den Gedanken tät bereiten:
Er stammt von keinem armen Frosch,
Sondern von Imre Lakatos.
Jedoch noch lauter muß ich loben,
Die ihn auf höh’re Ebne hoben.
Die beiden sind mir lieb und wert
Als meine Freunde Feyerbert.

Ernst Topitsch war schon damals eng mit dem "Österreichischen College" verbunden, das seit 1945 im Sommer regelmäßig die "Alpbacher Hochschulwochen" veranstaltete. Er hatte mich im Jahre 1955 darüber informiert, daß er zusammen mit dem dänischem Rechtsphilosophen Alf Ross im Rahmen dieser Tagung ein Seminar über das Ideologieproblem leiten werde, an dem meine Teilnahme erwünscht sei. So kam auch ich nach Alpbach und lernte diese Veranstaltung kennen und schätzen, die für das europäische Geistesleben von außergewöhnlicher Bedeutung war(2), vor allem auch deshalb, weil sie viele Vertreter der Philosophie und der Wissenschaften, die durch die europäische Entwicklung in den 30er Jahren zur Emigration gezwungen waren, nach Österreich lockte und sie dadurch in Kontakt mit an gleichen Problemen interessierten jungen Europäern brachte. Topitsch hat seit den 50er Jahren viel zum Erfolg der Alpbacher Veranstaltungen beigetragen und hat dort bis zu seinem Tode immer wieder Seminare geleitet und Vorträge gehalten.

Die Heidelberger Jahre Ernst Topitschs waren durch eine zunehmende Politisierung der Studentenschaft seiner Universität unter dem Einfluß marxistischer und neomarxistischer Parolen gekennzeichnet, die im Laufe der Zeit zu tumultuösen Zuständen führte. Vor allem die Lehren der "Frankfurter Schule" spielten dabei eine wichtige Rolle. Schon der Heidelberger Soziologentag im April 1964, der dem Denken Max Webers gewidmet war und den Topitsch mit einem Referat über das Generalthema der Tagung "Max Weber und die Soziologie heute" einleitete, gab einen kleinen Vorgeschmack davon, was später folgen sollte(3). Herbert Marcuse benutzte sein Referat über "Industrialisierung und Kapitalismus" dazu, Max Webers Auffassungen durch eine völlig irreführende Darstellung als Apologie des Kapitalismus zu denunzieren und dabei gleichzeitig eine Mißdeutung seiner Wissenschaftslehre mitzuliefern, die vor allem eine Attacke auf das Webersche Prinzip der Wertfreiheit involvierte, ein Prinzip, das Ernst Topitsch in seinem Vortrag positiv gewürdigt hatte. Aus Frankfurt war eine große Zahl von Studenten angereist, die offenbar vor allem an politischen Kundgebungen interessiert waren und sich in lautstarker Weise als Claque für ihre ideologischen Führer betätigten. Tendenzen dieser Art führten dazu, daß spätere deutsche Soziologentage teilweise zu ideologischen Auseinandersetzungen verkamen.

Die mit der Radikalisierung der studentischen Bewegung in Heidelberg und an anderen deutschen Universitäten einhergehenden Störungen des Vorlesungs- und Seminarbetriebs, der universitären Verwaltung und der Forschung, die sich im Laufe der Zeit ergaben, machten Ernst Topitsch seine anfangs mit großem Elan und Freude begonnene Tätigkeit zunehmend zur bloßen Pflichterfüllung, so daß ihm eine Rückkehr in ruhigere Gefilde wünschenswert erschien. Die Möglichkeit dazu ergab sich mit der oben erwähnten Berufung auf einen Lehrstuhl für Philosophie in Graz, den er alsbald annahm, um den Heidelberger Zuständen zu entkommen. So endet zu meinem Bedauern unsere gemeinsamen Heidelberger Zeit. In meinem Gästebuch hinterließ der in sein Grazer Idyll reisende Philosoph ein Gedicht, das die Motive seines Rückzugs deutlich machte:

Wir sind die deutschen Professoren,
Die Watschenmänner der Nation,
Wir tragen lange Eselsohren,
Und denken nur an Korruption.
Und statt zu forschen und zu lehren,
Hofieren wir dem Kapital
Die Rüstungswirtschaft wir verehren,
Und Glück ist uns der Menschheit Qual.
Wir sind die übelsten Tyrannen
Und saufen der Studenten Blut,
Die Assistenten wir entmannen,
Die Mädchen sind zu anderem gut.
Wir bosseln hinter Polstertüren
An unserer Autorität
Wir frönen wüsten Starallüren
Und faulenzen von früh bis spät.
Wie Monstren aus den Schauermären,
Wie Dracula und Frankenstein,
Die Lande ringsum wir verheeren,
Und Kinder, die uns sehn, die schrei’n.
Doch soll man uns nicht länger führen,
Wie Tanzbär’n auf dem üblen Marsch,
Wir schließen hinter uns die Türen,
Und sagen nur: l... uns am A... !

In Graz konnte er nun in Ruhe daran gehen, seine Studien zur Weltanschauungsanalyse, die er in den 50er Jahren in Wien begonnen und in den sieben Heidelberger Jahren fortgeführt hatte, zu vollenden. Nachdem ihm schon sein im Jahre 1958 veröffentlichtes erstes Werk(4) den Ruf eingebracht hatte, ein moderner Feuerbach zu sein, konnte er zwanzig Jahre später seine an diesen Philosophen erinnernde Projektionstheorie in einem neuen Werk präsentieren, das in überarbeiteter und erweiterter Form im Jahre 1988 erschienen ist(5).

Es ist hier nicht der Platz, dieses Werk und seine zahlreichen anderen Arbeiten zu inhaltlichen und methodischen Problemen der Philosophie und der Wissenschaften und zu historischen und politischen Fragen im Detail zu würdigen. Aber auf sein letztes Werk, ein kleines Buch, das kurz nach seinem Tode erschienen ist, möchte ich eingehen. Er ist am 26. Januar 2003 gestorben und hatte bis zuletzt an ihm gearbeitet. Das Buch verbindet autobiographische und ideologiekritische Betrachtungen in einer Weise, die unter anderem zeigt, wie seine Auffassungen mit den Erfahrungen zusammenhängen, die sein Leben geprägt haben.

"Das Leben", so beginnt Topitsch den Titelaufsatz dieses Buches(6), "ist für den Menschen ein wichtiger, wenn auch nicht immer angenehmer Lehrmeister, und wer schon den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts miterlebt hat, verdankt ihm Einsichten, auf die er nicht verzichten möchte". Er spricht dann von einem "Irrgarten der Zeitgeschichte", womit ebenso das faktische Zeitgeschehen wie seine historische Erfassung gemeint ist, einem Irrgarten, "in dem sich so mancher verlaufen" habe, "nicht selten mit bösen Folgen". Daraus könne sich aber auch "das Bedürfnis ergeben, das Erlebte und Erlittene zur Erkenntnis zu läutern", so daß man von "erlittener Aufklärung" sprechen könne. Dann folgt eine autobiographische Skizze, in der die Entwicklung seines Denkens auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen zum Ausdruck kommt und in der die zentralen Züge seiner philosophischen Konzeption in leicht faßlicher Form erläutert werden(7). Wer Topitschs Auffassungen kennen lernen möchte, ohne sich auf das Studium seiner Hauptwerke einzulassen, wird gut beraten sein, wenn er zu diesem Büchlein greift.

Ernst Topitsch pflegt als Positivist charakterisiert zu werden, aber diese Einordnung, die seit dem sogenannten Positivismusstreit üblich geworden ist, wird seinem Denken nicht ganz gerecht, obwohl sie hinsichtlich der radikalen Kritik der Metaphysik, durch die sein erstes Werk geprägt ist, eine gewisse Berechtigung zu haben scheint. Der Denker, der ihn seinem eigenen Zeugnis nach vor allem beeinflußt hat, war Thukydides, dessen Werk er schon im Gymnasium kennen gelernt hatte, und "dessen illusionsloser Realismus und unbeirrbare Wahrhaftigkeit" ihm, wie er feststellt, "mehr und mehr zum Vorbild wurden"(8). Er sei gewissermaßen, wie er sagt, "mit dem Thukydides im Tornister ... durch den Zweiten Weltkrieg gezogen und habe seine grundlegenden Einsichten mit geradezu beklemmender Präzision bestätigt gefunden".

Ein anderer Denker, dessen Arbeiten für ihn große Bedeutung hatten, ist Max Weber, "in dessen kompromißlosem Realismus" er bald "die Verwandtschaft mit Thukydides fühlte". Wie schon erwähnt, hatte er im Jahre 1964 den Heidelberger Weberkongreß mit einem Referat eröffnet, in dem er Weber und das von ihm vertretene Prinzip der Wertfreiheit der Wissenschaft positiv würdigte. Und auch später hat er immer wieder Weber gegen den Zeitgeist verteidigt, der durch die Lehren der "Frankfurter Schule" und verwandter Richtungen geprägt war. Außerdem hat er auf Resultate der Forschungen Max Webers zurückgegriffen.

Weiter ist vor allem der große Rechtsdenker und Sozialphilosoph Hans Kelsen zu nennen, der ihn zwar nicht mit seiner reinen Rechtslehre, aber mit seinen ideologiekritischen Untersuchungen beeinflußt hat, vor allem mit seiner Kritik an Naturrechtstheorien(9), aber auch mit seiner Analyse soziomorpher Weltdeutungen(10) , an die Topitsch unter anderem in seiner Weltanschauungsanalyse anknüpft. Er selbst nennt außerdem Heinrich Gomperz, die Neopositivisten und Karl Popper als Denker, die seine Entwicklung wesentlich mitbestimmten. Aber Viktor Kraft, der vermutlich in erster Linie gemeint ist, wenn er von Neopositivisten spricht, war, wie seine Arbeiten zeigen, eher ein kritischer Realist wie Karl Popper.

Es deutet also alles darauf hin, daß die übliche Einordnung Topitschs wenig sagt. Wenn man sein Denken in aller Kürze charakterisieren möchte, so kann man wohl sagen, daß es auf die Kritik illusionärer Gedankengebilde abzielte, in denen "Erklärung und werthafte Deutung des Universums, des Individuums und der Erkenntnis miteinander verschmolzen sind"(11). Die "mächtigen Traditionen", denen diese Gedankengebilde entstammen, seien, so meinte er, in allmählicher Auflösung begriffen. Aber ihr Einfluß im zeitgenössischen Denken sei nicht zu unterschätzen. Das sucht er an zwei Beispielen zu zeigen, denen er je einen der in diesem Buch enthaltenen Aufsätze widmet: am Beispiel der beiden "Antipoden" Carl Schmitt und Jürgen Habermas(12).

In seinen abschließenden zusammenfassenden Bemerkungen zum Schmittschen Denken weist Topitsch auf dessen "illusionistische Wirklichkeitsblindheit" hin, die mit einer "starken Emotionalisierung" und inbesondere einer weitgehenden "Ausblendung der Zweckrationalität" verbunden sei(13). In "einer tieferen Schicht" handele es sich dabei "um ein eigenartiges, blendendes und verblendendes Ineinanderspiegeln von empirischer und überempirischer Geschichtsaufassung, wobei die letztere den entscheidenden Einfluß" habe. Wichtiger als die "Konzessionen an die Realität", die Schmitt mitunter zu machen habe, sei "sein Bemühen, seine fundamentalistischen Glaubensüberzeugungen gegen jede Kritik und Infragestellung abzusichern". Dabei handele es sich um einen "katholischen Fundamentalismus, dessen Grundlagen Schmitt schon früh in sich aufgenommen hatte und der auch eine deutliche eschatologische Komponente aufwies". Die "eigentlichen Gegner seines Denkens seien Aufklärung, Säkularisierung und Liberalismus".

Seine Untersuchung des Habermasschen Denkens beginnt mit der Feststellung, daß die "Übereinstimmungen zwischen ihm und seinem Antipoden Carl Schmitt ... weit größer" seien, "als dies der herrschenden Meinung" entspreche(14). Auch bei Habermas sei "der theologische Hintergrund ... deutlich genug erkennbar". In diesem Zusammenhang führt Topitsch eine Erinnerung an Gespräche mit Habermas in den 60er Jahren an, in deren Verlauf ihm zu seiner Verblüffung auffiel, wie sehr dessen Auffassungen "denjenigen der christlich-abendländischen Restaurationsphilosophie nahestanden, die damals noch ganz unangefochten die Szene beherrschte"(15). "Für Habermas – den ‘guten Menschen’ aus Gummersbach" – sei "ebenso wie für Carl Schmitt, den ‘bösen Menschen’ aus Plettenberg im Sauerland, die wissenschaftlich-industrielle Revolution das geradezu apokalyptische Unheil" gewesen.

Es folgt der Versuch, das durch eine Analyse Habermasscher Texte im Detail zu zeigen, ein Versuch, in dem einerseits die maßlosen Ansprüche und andererseits die Unklarheiten, Ungereimtheiten und Widersprüche des Habermasschen Denkens und die Imponierprosa, deren sich dieser Denker nicht selten bedient, herausgestellt und einer Kritik unterworfen werden. Topitsch beendet diesen Versuch mit der Feststellung, es sei "erstaunlich, daß mit so leicht erkennbaren Mängeln behaftete Gedankengebilde einen so beträchtlichen publizistischen Erfolg erzielen können"(16). Es fällt schwer, ihm in diesem Punkte zu widersprechen.

Der letzte Aufsatz seines Buches ist der Schuldfrage gewidmet(17), über die schon Karl Jaspers kurz nach dem zweiten Weltkrieg ein viel beachtetes Buch geschrieben hatte. Im Anschluß an die Jasperssche Antwort macht er den Versuch, zur Klärung dieser Frage und der damit verbundenen Aporien beizutragen. Dabei wird unter anderem die Rolle des Nürnberger Prozesses untersucht, an den Topitsch damals ebenso wie Jaspers die Hoffnung geknüpft hatte, "er würde wenigstens einen Schritt in der Richtung auf eine bessere Weltordnung bilden"(18), eine Hoffnung, die bitter enttäuscht wurde(19). Der Prozess war bekanntlich von vornherein dadurch belastet, daß eine der zu Gericht sitzenden Siegermächte, nämlich die Sowjetunion, massiven Anteil an der Entfesselung des Krieges gehabt hatte(20).

Topitsch beschäftigt sich dann mit den Schwierigkeiten, auf Grund der vorhandenen Quellen die zu beurteilenden Tatsachen festzustellen, deren Feststellung die Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist, und erörtert in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen der historischen Wahrheit und "dem, was man als ‘politische Wahrheit’ bezeichnen kann"(21), dem nämlich, was die "ideologischen Domestiken" der Mächtigen als Wahrheit auszugeben pflegten, wobei auch an das Phänomen zu denken ist, das man heute "political correctness" nennt. Er behandelt unter anderem auch die Waldheimaffäre, in der sich sogar eine zur Klärung der relevanten Tatsachen etablierte Historikerkommission gründlich blamiert hat. Und er kommt bei der Behandlung des deutschen Historikerstreits noch einmal auf Habermas zurück, um dessen problematische Äußerungen einer Kritik zu unterwerfen.

Die nüchterne Skepsis, mit der Topitsch die mit der Schuldfrage zusammenhängenden Probleme behandelt, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man vorgehen kann, wenn man die Idee der Aufklärung ernst nimmt. Er hat sich nie darin beirren lassen und hat sich stets hartnäckig geweigert, sich im Rahmen der "political correctness" zu bewegen.

Das zeigt auch eines seiner erfolgreichsten Bücher, das merkwürdigerweise nicht einem philosophischen, sondern einem historischen Thema gewidmet ist, nämlich dem zweiten Weltkrieg(22). Topitsch hat mit diesem Buch den Versuch unternommen, die russische Beteiligung an diesem Krieg im Rahmen der Langzeitstrategie zu interpretieren, die, wie er meinte, der sowjetischen Außenpolitik von Anfang an zugrunde gelegen habe und die Stalin konsequent und taktisch geschickt fortgeführt habe. Im Rahmen dieser Strategie hat der deutsche Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, der von Topitsch natürlich als solcher nicht geleugnet wird, auch dann, wenn man ihm keineswegs den Charakter eines Präventivschlages im üblichen Sinne des Wortes zuschreiben möchte, eine andere Bedeutung, als sie ihm in der heutigen Zeitgeschichtsschreibung zugeschrieben wird.

Über die Plausibilität der in diesem Zusammenhang von Topitsch vorgebrachten Thesen angesichts der heutigen Quellenlage kann ich mir kein Urteil erlauben. Interessant scheint mir aber vor allem die Art und Weise zu sein, in der viele seiner Kritiker mit der Provokation umgegangen sind, die sie für die herrschende Meinung mit sich brachten(23). Vor allem die Tatsache, daß seine Darstellung sich nicht im Rahmen der "political correctness" hielt, war für viele ein Stein des Anstoßes. Wie das immer wieder in solchen Fällen geschieht, wurde Topitsch des "Revisionismus" bezichtigt, als ob die Revidierbarkeit überkommener Auffassungen angesichts neuer Quellen oder einer neuen Deutung vorhandener Quellen nicht eine für die Geschichte selbstverständliche Sache wäre. In dieser Hinsicht gilt für sie die für jede Wissenschaft gültige methodische Einstellung, soweit man ihr ein Interesse am Erkenntnisfortschritt unterstellen kann. Diejenigen, die diesen prinzipiellen Revisionismus aus "volkspädagogischen" oder ähnlichen Gründen verurteilen, sind sich vielfach wohl nicht darüber klar, daß sie darin mit der in totalitären Systemen üblichen Praxis übereinstimmen.

Mit Ernst Topitsch haben wir einen Denker verloren, der ungeachtet vieler Anfeindungen und unbeeindruckt von Modeströmungen der kritischen Vernunft treu geblieben ist. Ich möchte nur die Hoffnung ausdrücken, daß die Ergebnisse seiner Forschungen die ihnen gebührende Beachtung finden mögen.


Anmerkungen:

(1) Walter Kaufmann, Deutscher Geist heute, Texte und Zeichen, 16, 1957.

(2) vgl. dazu Otto Molden. Der andere Zauberberg. Das Phänomen Alpbach. Persönlichkeiten und Probleme Europas im Spiegelbild geistiger Auseinandersetzung, Wien/München/Zürich/New York 1981. Das "Österreichische College" war von Mitgliedern des österreichischem Widerstandes gegründet worden, zu denen auch Otto Molden gehörte, auf dessen Initiative die Alpbacher Veranstaltungen zurückgingen.

(3) vgl. dazu Otto Stammer (Hg.), Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. deutschen Soziologentages, Tübingen 1965.

(4) vgl. Ernst Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien 1958.

(5) vgl. Ernst Topitsch, Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, 2. Auflage, Tübingen 1988.

(6) vgl. Ernst Topitsch. Im Irrgarten der Zeitgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 2003, S. 9.

(7) Eine kurzer Aufsatz: Stiller Widerstand in der "Universität unter den Hakenkreuz", a.a.O., S. 131-137, ergänzt diese Skizze.

(8) vgl. Topitsch,a.a.O., S. 11ff..

(9) vgl. dazu seine Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Aufsatzband: Hans Kelsen. Aufsätze zur Ideologiekritik, Neuwied/Berlin 1964, S. 11-27. Kelsens Deutung der platonischen Lehre von der Gerechtigkeit als einer Herrschaftsideologie, die in einem der darin abgedruckten Aufsätze zu finden ist, stammt übrigens aus dem Jahre 1933 und ist also mehr als zehn Jahre vor der Platon-Kritik Karl Poppers erschienen.

(10) vgl. dazu Hans Kelsen, Vergeltung und Kausalität (1941), Wien/Köln/Graz 1982, zu dessen Neuauflage Topitsch eine Einleitung beigesteuert hat.

(11) a.a.O., S. 15.

(12) vgl. Topitsch, Die Wissenschaftsauffassung Carl Schmitts, a.a.O., S. 44-92, und: Die "Himmelsstadt" des Jürgen Habermas. Ein Kapitel zur politischen Theologie, a.a.O., S. 93-130.

(13) a.a.O., S. 89ff.

(14) a.a.O., S. 92ff.

(15) Auf den pietistischen Hintergrund von Habermas habe besonders Imanuel Geiss aufmerksam gemacht, und zwar in seinem Buch: Der Hysterikerstreit, Bonn/Berlin 1992, S. 146f.

(16) a.a.O., S. 130, vgl. dazu aber Clemens Albrecht/Günther C.Behrmann/Michael Bock/Harald Homann/Friedrich A.Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/New York 1999, S. 184-188, S. 220ff. und passim.

(17) a.a.O., S. 138-178: Die dunkle Seite des Mondes. Gedanken zur "Schuldfrage".

(18) a.a.O., S. 142

(19) Jaspers sprach schon 1962 von einer niederschmetternden Enttäuschung und Topitsch beendet seine Untersuchung der Schuldfrage mit der Bemerkung, man könne ihr Ergebnis "im Sinne von Jaspers als niederschmetternd empfinden".

(20) Über das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Vertrag von 1939, "durch das sich die Sowjets als direkte Komplizen der deutschen Aggression erwiesen haben", so stellt er fest, "mußte natürlich in Nürnberg aus politischen Gründen striktes Stillschweigen bewahrt werden", a.a.O., S. 159.

(21) a.a.O., S. 145

(22) vgl. Topitsch, Stalins Krieg. Moskaus Griff nach der Weltherrschaft – Strategie und Scheitern München 1985, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Herford 1998, und Topitsch, Im Irrgarten der Zeitgeschichte, S. 29-33 und S. 147f.

(23) vgl. dazu das Nachwort: Ein Cannae der "Zeitgeschichte", in seinem Buch über Stalins Krieg, a.a.O., S. 259-277, und: Im Irrgarten der Zeitgeschichte, a.a.O., S. 33. Natürlich wurden ihm, wie das in solchen Fällen üblich ist, unlautere Motive unterstellt.



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